Für die Pflege läuft die Aufschiebefrist jetzt aus. Die neue Regierung muss sofort liefern

Das Wort "Pflegenotstand" kam erstmals im Jahr 1984 in die Schlagzeilen. Seitdem suchten insgesamt zehn Bundesregierungen nach Wegen, ihm zu begegnen. Jetzt bildet sich die Elfte, wahrscheinlich eine Ampel-Koalition. Sie erbt das Problem und wird es lösen müssen. Denn die Aufschiebefrist läuft aus. Im Jahr 2030 werden Schätzungen zufolge bis zu 500.000 Pflegekräfte fehlen, gleichzeitig steigt die Zahl der Pflegebedürftigen bis dahin von 4,1 Millionen auf etwa fünf Millionen.

Der neuen Regierung muss mehr einfallen als den Vorgängern, die taten, was Regierungen eben tun: Gesetze mit kryptischen Namen verabschieden. Kleine Auswahl: Pflegestärkungsgesetz, Pflegelöhneverbesserungsgesetz, Arbeitnehmer-Entsendegesetz, Angehörigen-Entlastungsgesetz, Arbeit-von-morgen-Gesetz, Fachkräfteeinwanderungsgesetz, Arbeitsschutzkontrollgesetz, Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz. Allein Bundesgesundheitsminister Jens Spahn brachte es auf 40 solche Gesetze, und auch ansonsten gebärdete er sich aktionistisch, er trommelte die wichtigen Player im Gesundheitswesen für die "Konzertierte Aktion Pflege" zusammen und warb im Kosovo und Mexiko ausländische Pflegekräfte an. Doch auch sein Erfolg blieb überschaubar.

Klinikstreik in Berlin


"Wir geben uns auf, um für andere da zu sein": Eine Pflegerin erklärt, warum sie als letztes Mittel zum Streik greifen musste

Während die Parteispitzen in Berlin verhandeln, spitzt sich draußen in der Hauptstadt die Lage dramatisch zu. Mehrere tausend Menschen demonstrierten am Samstagnachmittag in Neukölln für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen in Berliner Kliniken. Die Pflegekräfte der Vivantes-Kliniken zündeten vor 35 Tagen die höchste Eskalationsstufe, sie streiken, viele Stationen in ihren Krankenhäusern laufen im Notbetrieb. "Wir geben uns gewissermaßen auf, um für andere da zu sein", sagte die 35-jährige Pflegekraft und Mitstreikende Carolin Puschke dem stern. "Und diese Belastung steckt in den Knochen, jeden Tag."

Endzeitszenario 2033: Arbeitslose werden als „Pflege-Unterstützer:innen“ verpflichtet

Auch vom Deutschen Pflegetag, der heute tagt, gehen klare Signale an die kommende Regierung. Die neue Präsidentin Christine Vogler beschwor in ihrer fulminante Antrittsrede mit einem Endzeitszenario im Jahr 2033 herauf: Nach der Pandemie sind hunderttausende Pflegekräfte aus dem Beruf geflohen, die Zahl der Verbliebenen ist auf 200.000 geschrumpft, sie koordinieren "Pflege-Unterstützer:innen" – Arbeitslose, die zu Hilfsjobs verpflichtet wurden. Die ambulante Pflege wurde mangels Personal abgeschafft, Menschen ab 80 können sich unkompliziert an die "Beendigungs-Behörde" wenden und "um den Lebensabschluss bitten". Voglers Stimme wird eindringlich: "Wir haben es heute tatsächlich noch in der Hand. Auch wenn die Zahlen sich katastrophal anhören und es auch sind, können wir doch Bedingungen schaffen, die die Gesundheitsversorgung sichern."

Ihre Forderungen sind nicht neu: Gehälter ab 4000 Euro, damit mehr Pflegende im Beruf bleiben und Berufsaussteiger zurückkehren. Bessere Arbeitsbedingungen durch Einführung und Weiterentwicklung von verbindlichen Personalschlüsseln. Vor allem aber auch: Erweiterte Kompetenzen für Pflegende. 20 Prozent sollen zudem ein Studium absolvieren, um den immer anspruchsvolleren Aufgaben gerecht zu werden, so wie es der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen seit vielen Jahren fordert.

Karrieren von der Pflegehilfe bis zur Professur müssen möglich werden

Neustart Deutschland


Solidarisch und revolutionär: Wie Gemeinsinn unser Gesundheitswesen heilen kann

Es lohnt sich, vor allem über diese Punkte nachzudenken: erweiterte Kompetenzen, mehr Pflegekräfte mit Hochschulstudium. Denn worum geht es? Solange der Pflegeberuf bleibt, wie er ist, werden sich nicht mehr junge Leute dafür begeistern. Dann werden sich auch die Arbeitsbedingungen nicht verbessern, es ist ein Teufelskreis. Wie wäre es mal damit, Menschen zu interessieren, die bisher Pflege gar nicht in Erwägung ziehen – weil sie keinen Beruf wollen, in dem sie ihr Leben lang weisungsbefugt bleiben und ab dem Alter von 35 kaum noch Weiterentwicklungsmöglichkeiten haben? Menschen also, die heute lieber Medizin oder Pharmazie studieren. Im Ausland, etwa in Kanada, den Niederlanden oder den skandinavischen Ländern, bietet die Pflege längst lebenslange Entwicklungsperspektiven. Dort sind Karrieren von der Pflegehilfe bis zur Professur möglich. Pflegekräfte forschen als "Advanced Practice Nurses" an Unikliniken, arbeiten als "School Nurses" im Schuldienst, um Fehlentwicklungen bei Kindern und Jugendlichen vorzubeugen, sie managen als "Community Health Nurses" (Gemeindeschwestern) die Gesundheitsversorgung auf dem Land oder in den sozialen Problemvierteln der Städte. Sie stehen auf Augenhöhe mit den Ärztinnen und Ärzten und sorgen dafür, dass ältere chronisch Kranke so lange wie möglich selbständig leben können. Kurz: Sie kümmern sich um all das, wozu die überlasteten Hausärztinnen und -ärzte oft nicht kommen. Was für ein Traum, so selbständig arbeiten zu können.

In Deutschland bleiben solche Karrieren bislang die große Ausnahme. Denn hierzulande gibt es immer noch viele, die davon überzeugt sind, dass Pflege ein Assistenzberuf bleiben muss. Gelänge es aber, völlig neue Zielgruppen zu begeistern, die das Krankenhaus oder Pflegeheim als einen "Durchlauferhitzer" auf dem Weg zu höheren Weihen begreifen und mit der Perspektive arbeiten, dass sie erstmal nur ein paar Jahren durchhalten müssen – dann wären die Arbeitsbedingungen in ein paar Jahren gar nicht mehr so unattraktiv, dass sie später aus dem Beruf fliehen müssten. Weil es nämlich viel mehr Pflegekräfte gäbe.

Am Geld darf es diesmal nicht scheitern

Die Chancen, dass Pflegeberufe echte Traumberufe werden, stehen eigentlich besser als jemals zuvor, wenn die Ampelkoalition Realität wird. Denn sowohl die SPD als auch die Grünen und die FDP stehen der Forderung des Pflegerats nach "erweiterte Kompetenzen" schon lange aufgeschlossen gegenüber. Es ist, was Gesundheitspolitik anbelangt, eine ihrer größten Übereinstimmungen. Wäre da nicht noch eine winzigkleine Kleinigkeit: Woher soll das Geld kommen, um die Pflege massiv aufzuwerten? Die FDP wird auf der Einhaltung der Schuldenbremse pochen. Auch die Bürgerversicherung, die sofort frisches Geld in die Pflegekassen spülen würde, ist mit den Liberalen nicht zu machen. Höhere Steuerzuschüsse vielleicht? Auch schwer möglich, nach der Pandemie hat sich der Staat hoch verschuldet, und Besserverdienende mit höheren Steuern zur Kasse zu bitten, ist eine rote Linie für die FDP.

Und anders als die Grünen und die SPD finden es viele Liberale okay, wenn Gewinne aus unserem solidarisch finanzierten Gesundheitswesen weiterhin in den Taschen großer Konzerne und zu Investmentfonds auf den Cayman Islands fließen – anstatt unser System zu refinanzieren.

Woher also die vielen Milliarden kommen sollen, die es braucht, um unser Gesundheitssystem und die Pflege zukunftssicher zu machen, das ist einstweilen noch ungewiss. Doch die neue Regierung wird auch diese Aufgabe lösen müssen. Am Geld darf es diesmal nicht scheitern.

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