Suizid mit 16 Jahren: Warum Familie Puhl über Emils Tod spricht
Wie gehen Eltern damit um, wenn sich ein Kind das Leben nimmt? Schweigen und Verstecken ist das Schlechteste, findet eine Familie aus Frankfurt. Sie will helfen, psychische Krankheiten besser zu erkennen. Auch ein Roman soll Türöffner für Gespräche sein.
„Wenn wir damals gewusst hätten, was wir heute wissen, wäre es vielleicht anders ausgegangen“, sagt Alix Puhl. Damals – das ist der Zeitraum vor Emils Tod. Im Corona-Sommer 2020 nahm sich eines der vier Kinder der Frankfurter Familie mit 16 Jahren das Leben. „Damit anderen erspart bleibt, was Emil erleiden musste“, gehen die Puhls an die Öffentlichkeit. Sie wollen dazu beitragen, dass psychische Krankheiten früher erkannt werden.
Emil war besonders, sagt die Mutter in der Küche, in der nur noch fünf statt sechs Stühle um den großen Esstisch stehen. Emil hatte eine bei Hochbegabten häufige Form des Autismus und litt zuletzt an einer schweren Depression – was den Eltern lange Zeit beides nicht klar war.
„Alle Farben grau“ – Emils Geschichte
Der Jugendroman „Alle Farben grau“ (Fischer Verlag) von Martin Schäuble versucht, sich in ein solches Kind hineinzuversetzen. Auch wenn der Protagonist „Paul“ heißt und Details verfremdet wurden, ist es doch Emils Geschichte. Das Buch sei „eine Tür, um ins Gespräch zu kommen“, hofft Alix Puhl.
Dass die Puhls nicht schweigen wollten, hat mit ihren Erfahrungen nach Emils Tod zu tun. „So viele Menschen kamen auf uns zu und erzählten von Suiziden in ihrem Umfeld“, erzählt Puhl. „Viele sagten: Das ist das erste Mal, dass ich darüber spreche. Aber bitte sagen Sie es niemanden.“ Auch Autor Martin Schäuble („Black Box Dschihad“) macht solche Erfahrungen, seit der Roman „Alle Farben grau“ im August erschien, wie er im Interview berichtet.
Der Kontakt zwischen Autor und Familie kam über gemeinsame Bekannte zustande. Anstoß war die Gedenkfeier zu Emils erstem Todestag, auf der die Eltern einen Brief an ihren toten Sohn vorlasen. Schäuble lernte über diese Vermittlung die Puhls kennen und war beeindruckt, wie „schonungslos und ehrlich“ sie waren.
„Es ist verdammt schwer, darüber zu sprechen“
Monatelang sprach er mit Familie, Freunden, Lehrern. Ein Sachbuch kam für ihn nicht in Frage. „Mit einem Roman hat man die Chance, viel mehr Menschen zu erreichen. Aber ich wollte auch echte Menschen: Von ihnen kann man am meisten lernen.“ Inzwischen gibt es auch eine Bühnenversion, allerdings noch keinen Termin für eine Uraufführung.
Wie die Puhls spürt auch Schäuble, wie groß die Angst vieler Menschen ist, sich diesem Thema zu stellen. „Das Thema ist nicht groß, es ist riesig. Und doch – oder vielleicht deswegen – ist es verdammt schwer, darüber zu sprechen.“ In Lesungen und Interviews will er „Vertrauensarbeit“ leisten: „Nur weil man nicht darüber spricht, geht das Thema ja nicht weg. Man muss keine Angst haben vor diesem Buch.“
In „Alle Farben grau“ wird die Tat selbst – ebenso wie eine Ankündigung zuvor – komplett ausgespart. An der Stelle, wo sich „Paul“ in dem Roman das Leben nimmt, hat der Verlag zwei schwarze Seiten eingefügt. „Nur sehr wenige Menschen wissen, was auf diesen Seiten geschehen ist“, sagt Alix Puhl.
192 Suizide von Jugendlichen unter 20 Jahren
In Deutschland sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten, illegale Drogen und AIDS zusammen, erklärt die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS). Und auf jeden Suizid kommen statistisch gesehen 10 bis 20 Suizidversuche. „Suizidalität ist daher ein Themenfeld, das eine deutlich größere Beachtung verdient“, findet die DGS.
Zwar steigt das Suizidrisiko statistisch mit zunehmenden Lebensalter. Aber in der Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen ist Suizid nach Angaben der DGS weltweit die zweithäufigste Todesursache. Laut Statistischem Bundesamt nahmen sich 2022 in Deutschland 172 Jugendliche zwischen 15 und 20 Jahren das Leben und 20 Kinder unter 14 Jahren. „Wissenschaftler gehen davon aus, dass sehr viele Menschen, die durch einen Suizid sterben, zu diesem Zeitpunkt an einer psychischen Erkrankung litten“, heißt es bei der DGS.
Emils leeres Zimmer ist jetzt ein Büro
Daher wollen die Puhls aufklären. Sie haben ein gemeinnütziges Unternehmen gegründet, das Fortbildungen anbietet, um psychische Krankheiten früher zu erkennen. Dafür wurde Emils leeres Zimmer zum Büro. Inzwischen hat „tomoni mental health“ zehn Mitarbeiter. Auch für die Stiftung, die die Puhls bereits 2015 gegründet hatten, ist Suizidprävention inzwischen ein wichtiges Tätigkeitsfeld.
Andreas Reif, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Frankfurt findet diesen Ansatz „sehr sinnvoll und unterstützenswert“. Man wisse, dass besseres Wissen über psychische Erkrankungen im schulischen Umfeld zu einem besseren Umgang mit den Betroffenen führe und darüber auch zu einem besseren Verlauf der Erkrankung. Jedoch gebe es keine systematische Ausbildung zu diesem Thema, sagt der Experte, der auch im wissenschaftlichen Beirat von „tomoni“ sitzt.
450 Lehrkräfte haben bereits an den Online-Fortbildungen teilgenommen. Die Kosten tragen zur Zeit noch verschiedene Stiftungen. 2024 will „tomoni“ Module für Eltern anbieten und im dritten Schritt ein Programm für Jugendliche erarbeiten. Aktuell werden zwei Versionen der Fortbildungsmodule wissenschaftlich evaluiert. Das Universitätsklinikum Würzburg vergleicht, was besser funktioniert: wenn Betroffene oder wenn Wissenschaftler vortragen.
Haben Sie suizidale Gedanken oder haben Sie diese bei einem Angehörigen/Bekannten festgestellt? Hilfe bietet die Telefonseelsorge: Anonyme Beratung erhält man rund um die Uhr unter den kostenlosen Nummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222. Auch eine Beratung über das Internet ist möglich unter www.telefonseelsorge.de
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