Ein Parlament entmachtet sich selbst

Es versprach ein diskurs- und entscheidungsfreudiger Apothekertag zu werden: Die Antragsmappe, die in München vorlag, war so dick wie nie. Doch statt selbstbewusst die Weichen für den Berufsstand zu stellen, machte sich in München die „Ausschusseritis“ breit, kritisiert DAV-Verleger Christian Rotta. 

Nicht weniger als 274 Seiten umfasste die (ressourcenintensive) Antragsmappe, die den Delegierten des diesjährigen Apothekertags in München vorlag. Und in der Tat: Anlässe für deutliche Statements und Positionierungen der Hauptversammlung gab und gibt es aktuell genug: Insbesondere die wie ein Damoklesschwert über den Apotheken schwebende Erhöhung des Kassenabschlags treibt den Berufsstand um und aufgrund der Personalnot arbeiten viele Apotheken und ihre Teams bereits heute am Limit. 

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Aber auch strukturell und apothekenpolitisch stellen sich herausfordernde Fragen: Wie umgehen mit den sinkenden Apothekenzahlen? Droht beim Dispensierrecht – Paxlovid lässt grüßen – ein Dammbruch zugunsten der Ärzte (und sollten umgekehrt in engen Ausnahmefällen im Apothekennotdienst Dauermedikamente auch ohne Vorlage einer Verschreibung abgegeben werden dürfen)? Welche Konsequenzen hat die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) favorisierte Etablierung von Gesundheitskiosken für die Vor-Ort-Arzneimittelversorgung in Apotheken? Wie geht es mit E-Rezept und elektronischer Gesundheitsakte weiter? Und höchst brisant: Sind wir in unseren Apotheken und im Gesundheitswesen insgesamt ausreichend auf die für den Winter prognostizierte Corona-Welle vorbereitet?

Delegierte zeigen sich wenig entscheidungsfreudig

Es gab auf dem Apothekertag also viel zu diskutieren und zu entscheiden. Nur: Letzteres war in München eher die Ausnahme als die Regel. Anträge zur „Verweisung in den Ausschuss“ entwickelten sich in der Hauptversammlung zur Zauberformel, wenn es für die Delegierten galt, Farbe zu bekennen. Nur selten widerstanden die Delegierten der Versuchung, die weitere Behandlung von (vermeintlich) umstrittenen Anträgen den Gremien der ABDA zu überantworten.

Ausschusseritis: Hauptversammlung entzieht sich ihrer Verantwortung

Die Ausschusseritis, das gleichermaßen virtuose wie hemmungslose Jonglieren mit Geschäftsordnungsanträgen zur Beendigung inhaltlicher Diskurse, führte zu einer fatalen Selbstentmachtung der Hauptversammlung. Statt seine vornehmste Aufgabe wahrzunehmen, eigenständig und selbstbewusst Grundsatzentscheidungen zu treffen, berufspolitische Pflöcke einzuschlagen und inhaltliche Leitplanken zu setzen (die dann von den ABDA-Gremien dann dort, wo dies notwendig ist, noch auszugestalten und zu konkretisieren sind), entzog sich in München die Mehrheit der Delegierten bei zahlreichen Anträgen dieser Verantwortung. Noch nie gab es auf einem Apothekertag so viele Anträge wie dieses Jahr – und noch nie so viele, über die nicht entschieden wurde!

Ursächlich hierfür waren wohl mehrere Komponenten: zum einen eine beachtliche Anzahl suboptimal formulierter und auch in ihren Konsequenzen wenig durchdachter Anträge (bei denen offensichtlich auch die ABDA-Antragskommission vorab nicht Rücksprache mit den Antragstellern genommen hatte). Zum anderen ein Zeitkorsett, das die Delegierten stark unter Druck setzte und in dem es kaum möglich war, die fast hundert Anträge angemessen zu diskutieren – ein Korsett, das noch viel enger gewesen wäre, wenn die vorgesehene gesundheitspolitische Diskussionsrunde mit Vertretern der Bundestagsfraktionen nicht entfallen wäre, weil es hierfür reihenweise Absagen der zuständigen Politiker gehagelt hatte – aber das ist ein anderes Thema.

War die thematische Ausrichtung passend?

Und schließlich sei die Frage erlaubt, ob es eine gute Idee war, die Hauptversammlung 2022 unter das Generalthema „Klima, Pharmazie und Gesundheit“ zu stellen. Ohne Zweifel ist das Thema für uns alle von exorbitanter, ja existentieller Bedeutung. Dies haben auch die beeindruckenden Vorträge von Markus Rex, Claudia Traidl-Hoffmann und Martin Herrmann gezeigt. Eine andere Frage ist, ob eine Hauptversammlung für die hinreichende Durchdringung des Themas (einschließlich seiner Konsequenzen) der geeignete Ort ist. 

Wäre es nicht angemessener gewesen, das Thema „Klimawandel und Gesundheit“ interdisziplinär zusammen mit Akteuren, Verbänden und Einrichtungen anderer Gesundheitsberufe, etwa im Rahmen eines eigenständigen Kongresses, zu beleuchten? So blieb in München in einer eher mäandernden Debatte beim Thema Nachhaltigkeit vieles im Ungefähren. Auch hier landeten acht von elf Anträgen zum Thema „Klimaschutz und Nachhaltigkeit“ nach diversen Geschäftsordnungskaskaden – siehe oben – wieder in einem ABDA-Ausschuss oder -Gremium. Und nach Intervention des Hauptgeschäftsführers („Mindestens zwei neue Stellen mit Kosten im sechsstelligen Bereich“) konnte sich die Hauptversammlung nicht einmal zur Ernennung eines ABDA-Nachhaltigkeitsbeauftragten durchringen.

Apothekenspezifische Themen in den Mittelpunkt rücken

Bleibt zu hoffen, dass beim Programm des Apothekertags 2023 wieder die apothekenspezifischen und berufspolitischen Fragen im Vordergrund stehen, die dem Berufsstand unter den Nägeln brennen. Davon gibt es genug. Die Themen hierzu liegen vor uns. Man muss sie nur aufgreifen.

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