Trägt veränderte Darmflora zur Entstehung von Magersucht bei?

Die Diagnosen von Magersucht sind zuletzt bundesweit drastisch gestiegen, die Aussicht auf Genesung ist nicht gut. Eine Studie deutet darauf hin, dass Veränderungen der Darmflora zur Entstehung der Krankheit beitragen. Oder ist es vielleicht umgekehrt?

An der Entstehung von Magersucht kann einer Studie zufolge auch die Darmflora maßgeblich beteiligt sein. Das berichtet ein internationales Forschungsteam nach Analysen der Bakterien im Verdauungstrakt von 147 Frauen, 77 davon mit Anorexia nervosa (AN). Demnach ist die Essstörung mit einer Veränderung des Mikrobioms verbunden, was sich wiederum auf den Stoffwechsel auswirke – und auf Appetit und Stimmung.

Eine deutsche Expertin spricht von einer „sehr guten Studie“, sieht darin aber keinen Beweis für eine ursächliche Beteiligung des Mikrobioms an der Entstehung der Essstörung. Dennoch könne die Untersuchung Anstoß zur Entwicklung möglicher Therapieansätze geben, sagt Beate Herpertz-Dahlmann vom Universitätsklinikum Aachen, die nicht an der Arbeit beteiligt war.

Erbgut und hormonelle Veränderungen in Pubertät an Entstehung von Magersucht beteiligt

Von der meist in der Pubertät, zuletzt vermehrt aber auch schon in der Kindheit beginnenden Anorexia nervosa seien zu 95 Prozent Frauen betroffen, schreibt das Team um Oluf Pedersen von der Universität Kopenhagen in der Zeitschrift „Nature Microbiology“. Zwar könnten Therapien Schäden durch die potenziell tödliche Erkrankung verringern, doch viele Betroffene würden nicht vollständig geheilt.

Bekannt ist, dass das Erbgut eine sehr wichtige Rolle spielen kann und dass pubertätsbedingt hormonelle Veränderungen an der Entwicklung der Anorexia nervosa beteiligt sein können. Die Forschungsgruppe, darunter Mitarbeiterinnen der Universität Mainz, prüfte nun, ob Mikroorganismen im Darm unter anderem Appetit, Emotionen und Verhalten beeinflussen und so zur Entstehung der Störung beitragen könnten.

Betroffene haben andere Bakteriengruppen als normalgewichtige Frauen

Dazu untersuchte das Team zunächst die Darmflora von 77 betroffenen und von 70 normalgewichtigen Frauen, die im Mittel gut 23 Jahre alt waren. Tatsächlich fanden die Forscher klare Veränderungen: So traten manche Bakteriengruppen bei Frauen mit Anorexia nervosa seltener auf, andere dagegen waren deutlich überrepräsentiert. Auch Häufigkeit und Vielfalt von Viren unterschieden sich in beiden Gruppen.

Die veränderte Darmflora und ihre Stoffwechselprodukte könnten sich auf die Bildung verschiedener Neurotransmitter wie etwa Serotonin, Dopamin und Glutamat auswirken, schreibt die Gruppe. Dies könne sowohl die Stimmung als auch Appetit und Essverhalten beeinflussen.

Gewichtsverlust bei Mäusen mit transplantierten Stuhlproben von Magersüchtigen

Um eine Kausalbeziehung zu belegen, transplantierte das Team Stuhlproben von vergleichbaren Frauen aus beiden Gruppen in junge keimfreie Mäuse, die zunächst drei Wochen lang kalorienarm gefüttert wurden. Jene Tiere, die Fäkalien von Frauen mit Anorexia nervosa erhalten hatten, wiesen nach den drei Wochen weniger Körpergewicht auf. Das änderte sich auch dann nicht grundlegend, als die Tiere nach Belieben fressen konnten. Generell waren bei ihnen im Fettgewebe und im Hirnareal des Hypothalamus Gene für Proteine aktiviert, die etwa an Sattheitsgefühl und Stimmung beteiligt sind.

„Sowohl Serotoninaktivität als auch Appetitregulierung könnten an Entwicklung und/oder Beibehaltung des AN-Syndroms beteiligt sein“, schreibt die Gruppe. „Unsere Resultate stützen die Hypothese, dass ein schwer gestörtes Darmmikrobiom zu manchen Prozessen in der Entstehung der Anorexia nervosa beiträgt.“

Kritik an Studie: Verändertes Mikrobiom könnte erst durch unzureichende Ernährung entstehen

Ob ein verändertes Mikrobiom tatsächlich eine wesentliche Ursache der Anorexia nervosa ist, würde Herpertz-Dahlmann mit Fragezeichen versehen. Ebenso sei es möglich, dass die Essstörung selbst durch unzureichende und veränderte Nahrungsaufnahme über Jahre hinweg die Zusammensetzung der Darmflora verändere, sagt die Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. In diesem Zusammenhang bemängelt sie konkret, dass die Studie keine Angaben dazu enthält, wie lange die Teilnehmerinnen bereits die Essstörung hatten.

Gut möglich sei allerdings, dass die in der Studie gefundenen Veränderungen im Darm dazu beitragen könnten, dass sich die Essstörung im Laufe der Zeit verfestige. Das erschwere dann die ohnehin schon schwierige Therapie. Und das könne erklären, warum viele Patientinnen Probleme damit haben, zuzunehmen und dann ihr Gewicht zu halten.

Neue Therapiemöglichkeiten für die Zukunft erforscht

Damit hätten die Resultate möglicherweise Auswirkungen auf künftige Therapien, sagt die Expertin: So werde in Studien etwa geprüft, während der Therapie die Ernährung mit bestimmten Nährstoffen wie Omega-3-Fettsäuren oder mit lebenden Bakterien anzureichern, um die Darmflora gezielt zu verändern. Auch Stuhltransplantationen würden erforscht – bislang allerdings mit unterschiedlichen Ergebnissen.

Was jedoch klar sei und in der aktuellen Studie nicht berücksichtigt werde: Die Erkrankung habe auch eine deutliche psychosoziale Komponente. So habe sich die Anzahl der stationär behandelten Jugendlichen und Kinder in Deutschland während der Covid-Pandemie und der damit einhergehenden Lockdowns um 30 bis 40 Prozent erhöht.

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