Neue Erbkrankheit entdeckt: Unbekannten Genmechanismus für Missbildungen entschlüsselt – Heilpraxis
Was macht die Schrott-DNA? Durchbruch in der Erbgut-Forschung
Ein Team aus internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zeigte, dass ein für nutzlos gehaltener Teil der menschlichen DNA, der zuvor als Schrott-DNA oder junk DNA bezeichnet wurde, entscheidende Einflüsse auf die Entwicklung haben könnte und dass die Ursachen vieler Erbkrankheiten womöglich in diesem weitgehend unerforschten Teil des Genoms zu finden seien.
Ein internationales Forschungsteam mit Beteiligung des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik und der Charité – Universitätsmedizin Berlin entdeckte einen bislang unbekannten genetischen Mechanismus, der für schwere Fehlbildungen der Gliedmaßen verantwortlich ist. Die Studienergebnisse wurden kürzlich in dem renommierten Fachjournal „Nature“ vorgestellt.
Durchbruch in der Erforschung von Erbkrankheiten
Die Arbeitsgruppe hat nicht nur eine seltene genetische Erkrankung entdeckt, die sich in schweren Fehlbildungen der Gliedmaßen äußert, sie konnte auch einen bis dato unbekannten genetischen Mechanismus entschlüsseln, der auch bei anderen angeborenen Krankheiten eine Rolle spielen könnte.
Große Überraschung im menschlichen Erbgut
Vor rund 20 Jahren waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erstmalig in der Lage, das menschliche Erbgut zu sequenzieren. Dabei gab es bereits die erste große Überraschung: Nur 20.000 Gene scheinen die Baupläne für Proteine zu beinhalten, die so gut wie alle Körperfunktionen steuern. Diese 20.000 Gene machen aber weniger als zwei Prozent des gesamten Genoms aus. Dies warf die Frage auf: Welche Funktion hat der wesentlich größere Teil des Erbguts, der keine Proteine kodiert?
Als Schrott-DNA abgestempelt
Die Forschenden konnten keine Funktion der sogenannten „nichtkodierenden DNA“ entdecken, weshalb sie diese als „Schrott-DNA (englisch: junk DNA)“ klassifizierten. Heute gibt es bessere Möglichkeiten, um „zwischen den Zeilen des Genoms“ zu lesen, wie es die Arbeitsgruppe der aktuellen Studie bezeichnet. Demnach befinden sich in der Schrott-DNA wichtige und bislang übersehene Informationen, um genetische Aktivität zur rechten Zeit am rechten Ort an- oder abzuschalten.
Schrott-DNA scheint wichtige Gene zu aktivieren
Die Forschenden konnten genau in dieser Schrott-DNA einen neuen Krankheitsmechanismus entdecken, der eine genetische Erbkrankheit verursacht. Dabei beeinflussen DNA-Abschnitte aus der Schrott-DNA das seit Langem bekannte Gen „engrailed-1“ (En1), welches eine zentrale Funktion bei der Entwicklung der Extremitäten, des Gehirns, des Brustbeins und der Rippen spielt. Der Studie zufolge wird die Aktivierung von En1 durch Abschnitte aus der Schrott-DNA aktiviert. Ist dieser Vorgang gestört, kann es zu schweren Fehlbildungen der Gliedmaßen kommen.
Neue Anhaltspunkte für genetische Erkrankungen
„Ich erwarte, dass es noch mehr genetische Krankheiten mit vergleichbarer Ursache gibt, die sich nur bisher unserer Aufmerksamkeit entzogen haben“, kommentiert Professor Dr. Stefan Mundlos die Studienergebnisse. Er ist Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik. Die Studie liefere neue Ansatzpunkt für die Entstehung genetisch bedingter Erkrankungen. Die Ursachen von mehr als der Hälfe dieser Krankheiten sei noch unbekannt.
Mechanismus kann außergewöhnliche Fehlbildungen hervorrufen
Die Missbildungen, die durch Fehler in dem neu entdeckten Mechanismus hervorgerufen werden können, sind den Forschenden zufolge von außergewöhnlicher Natur, wie sie am Beispiel von drei Betroffenen zeigen. So können Kniegelenke beispielsweise nach vorne gerichtet, Finger miteinander verschmolzen sein oder Fingernägel auf der Handinnenseite wachsen.
„Offenbar ist während der Entwicklung der Gliedmaßen die Unterscheidung zwischen ventraler und dorsaler Seite – also der Handfläche beziehungsweise Fußsohle und der Rückseite – bei den Extremitäten verloren gegangen“, erklärt Professor Mundlos. Die Betroffenen seien zunächst Ärztinnen und Ärzten in Brasilien und Indien aufgefallen, die daraufhin DNA-Proben zur genetischen Untersuchung an den Humangenetiker Professor Dr. Andrea Superti-Furga von der Universität Lausanne schickten. Dessen Team entdeckte, dass bei allen Betroffenen ein ähnliches Stückchen nichtkodierender DNA fehlte. Um der Sache auf den Grund zu gehen, taten sie sich mit der Arbeitsgruppe von Professor Mundlos in Berlin zusammen.
Neue Bewertung der Schrott-DNA
Die Wissenschaftlerin Dr. Lila Allou am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik ergründete die molekulare Ursache der rätselhaften Krankheit. „Anfangs wussten wir nur, dass bei den drei Patienten ein ähnliches kleines Stück Erbgut fehlte“, berichtet sie. Aber die Sequenz befinde sich in einer „großen genetischen Wüste“, also in einem Abschnitt der nichtkodierenden DNA, über den nichts bekannt ist.
Nachweis der Ursache
In einem Mausmodell gelang der Nachweis, dass das fehlende Stück in der für nutzlos gehaltenen nichtkodierenden DNA tatsächlich die Ursache für die Erkrankung war. Die Forschenden entfernten mit der sogenannten CRISPR-Cas-Technologie die entsprechende DNA-Sequenz aus dem Genom der Mäuse, woraufhin diese die Krankheit nachbildeten. „Die Ergebnisse bestätigten, dass der fehlende DNA-Abschnitt die Ursache der Erkrankung war“, betont Dr. Allou.
In weiteren Untersuchungen zeigte sich, dass die genetisch veränderten Tiere keine Aktivität des En1-Gens mehr in den Gliedmaßen aufwiesen. Das besonders wichtige Gen wurde also praktisch gar nicht angeschaltet. Fehlregulationen von En1 sind bereits seit Jahrzehnten mit Entwicklungsstörungen verbunden. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings noch nicht bekannt, warum das fehlende Erbgutstück zum Verlust der En1-Aktivität führt.
Zwischen den Zeilen der Gene lesen
Doch auch dieses Rätsel konnten die Forschenden lösen. Es stellte sich heraus, dass ein RNA-Molekül in jener Region abgeschrieben wurde, die den Betroffenen fehlte. Diese Abschrift nannte das Team „Maenli“ (für Master regulator of En1 in the Limb). Die RNA fungiert in der Regel als Bote für Informationen und enthält den Bauplan für ein Eiweiß. In diesem Fall konnte die Information auf dem Molekül jedoch nicht übersetzt werden.
Fehler im genetischen Quellcode?
„Diese Art von transkribierten Schnipseln findet sich in großer Zahl im Genom, welche davon wichtig sind und welche nicht, ist häufig schwer zu sagen“, schildert Dr. Allou. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler halten diese Moleküle für funktionslos, aber in diesem Fall konnten die Forschenden zeigen, dass dies nicht immer der Fall ist – oder vielleicht sogar nie.
Im weiteren Verlauf der Studie untersuchte das Team die Funktion der Maenli-RNA, indem sie eine Mutation erzeugte, die die Transkription vorzeitig unterbrach. Mäuse mit einem inaktivierten Maenli zeigten dieselben Fehlbildungen wie die Tiere mit dem fehlenden Abschnitt. Dies untermauere, dass wirklich die fehlende RNA das Krankheitsbild hervorrief.
Das Ablesen selbst scheint eine wichtige Rolle zu spielen
Außerdem schien es, als sei Aufbau und Sequenz des RNA-Moleküls nur zweitrangig. Wichtiger sei wohl die Aktivität selbst, also das Ablesen an dem jeweiligen Ort auf dem Erbgutstrang. Denn nachdem Dr. Allou die Sequenz durch einen völlig verschiedenen Abschnitt ersetzt hatte, zeigten die Tiere zwar immer noch Anzeichen der Krankheit, aber weniger stark als durch die vollständige Inaktivierung von Maenli. Das Ablesen einer ganz anderen Sequenz an dieser Stelle reiche also offenbar aus, um das En1-Gen zu aktivieren – wenn auch in geringerem Maße als die ursprüngliche, natürliche Sequenz es vermochte.
Forschung mit weitreichenden Folgen
Wie das Ablesen zur Aktivierung von En1 führt, ist derzeit jedoch noch unklar und Gegenstand zukünftiger Forschungsarbeiten, resümiert die Arbeitsgruppe. Dennoch sei absehbar, dass die neuen Erkenntnisse weitreichende Folgen haben. „Unsere Ergebnisse berühren die Fachgebiete der Humangenetik, RNA-Forschung, Genregulation und Entwicklungsbiologie“, fasst Professor Mundlos zusammen. „Aus der Sicht der Entwicklungsbiologie haben wir einen neuen genetischen Mechanismus identifiziert, der während der frühen Embryonalentwicklung Zellen determiniert, zum ventralen Teil der Gliedmaßen zu werden“, ergänzt Dr. Allou.
90 Prozent der Genvarianten bislang unbeachtet
Die Wissenschaftlerin glaubt, dass die Ergebnisse auch die zukünftige Diagnostik genetischer Erkrankungen beeinflussen werden und helfen können, die Ursachen anderer seltener genetischer Krankheiten aufzuklären. „Über 90 Prozent der Genvarianten befinden sich im nichtkodierenden Teil des Genoms, aber es ist sehr schwierig, sie zu deuten und für diagnostische Zwecke zu nutzen“, so Dr. Allou. Die Forschung zeige klar, dass genetische Varianten, die bisher ignoriert wurden, essentiell für das Verständnis der molekularen Ursachen von Krankheiten sein können.
„Wovon wir annehmen, dass es unwichtig ist, das könnte tatsächlich den Schlüssel für wesentliche Erkenntnisse bereithalten“, kommentiert Dr. Allou abschließend.
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