Jahrelanger Missbrauch: Als die Polizei Tom befreite, aß er vor Hunger die Tapete von der Wand

Tom war elf Jahre alt, als unser Reporter ihn erstmals kennenlernte. Er traf einen tief traumatisierten Jungen zwischen Argwohn und blindem Vertrauen gegenüber Fremden. Das ist zwölf Jahre her. Nun haben wir den mittlerweile 23-Jährigen erneut besucht. Wie es Tom heute geht, lesen Sie im neuen stern (Heft 04/2019), erhältlich ab diesen Donnerstag. Lesen Sie hier noch einmal die Reportage, die im stern 9/2008 erschien.

Wie bedächtig der Junge die Haube poliert. Langsam lässt er seine Hand über das rote Metall kreisen. Leicht gebeugt und mit sanftem Druck – so wäscht man ein Auto. Nur der Stein in der Kinderhand irritiert. Der flache Kiesel kratzt eine Ellipse in den Kühler.

Ein Satellit auf der Umlaufbahn, den plötzlich eine große Hand umschließt und nach oben reißt. „Warum machst du das?“, fragt Dirk Müller* außer Atem. Gerade ist er zum VW Golf auf der Auffahrt gerannt und hält die Jungenhand fest. „Ich spiele Autowaschen“, antwortet Tom*.

Tom, 11, weiß nicht, wie ein Kind spielt. Er lernt es seit knapp acht Jahren. Dreieinhalb war er, als ihn das Jugendamt aus seiner „Herkunftsfamilie“, wie die Behörden sagen, herausholte und in die Obhut einer „Pflegefamilie“ gab. Es war die Chance auf ein zweites Leben. Das erste war nahezu verwirkt.

Ein Reihenhaus, darin ein helles Esszimmer, Kiefermöbel auf Dielen. Fotos mit Schiffen an den Wänden und ein Miniatur- Leuchtturm auf dem Fensterbrett; maritim sieht es hier aus, inmitten einer Vorstadt im Sauerland. „Ich war früher Seemann“, sagt Dirk Müller. Es klingt, als sei das lange her. Jetzt, sagt der Pflegevater, gebe es für ihn nur Tom. Denn mit dem sei das schon eine „Kiste“. Dieses Wort sagt er oft. Im Kopf stapelt der Diplom- Nautiker noch immer die Container eines Schiffes.

Ein spitzer Schrei, Panik am Esstisch. „Halt!“, ruft Tom. Es ist 13 Uhr. Gerade hat Dirk Müller nach der Kelle gegriffen und begonnen, den letzten Rest Kürbissuppe aus der Schüssel zu kratzen.

„Willst du noch?“, fragt er Tom. Nein, seit Minuten zieht Toms Löffel lustlos kleine Kanäle in das Gelb im eigenen Suppenteller.

Aber die Schüssel, die darf keiner vor seinen Augen leeren.

Es könnte ja die letzte sein.

Das Nervensystem schaltete auf Notbetrieb

Bevor die Polizei ihn damals befreite, aß Tom vor Hunger die Tapete von der Wand. Sein linkes Ohr war taub von den Schlägen, sein Unterleib vom sexuellen Missbrauch verletzt. Er konnte gerade drei Schritte gehen, kannte keine dreißig Wörter und spürte keine Schmerzen mehr. Das Nervensystem hatte auf Notbetrieb umgeschaltet. „In der Akte des Jugendamts stand nur, dass er vernachlässigt worden war“, erinnert sich Anke Müller*, Toms Pflegemutter.

Und dass der Dreieinhalbjährige körperlich, seelisch und geistig nicht auf dem altersgerechten Stand war – von den tatsächlichen Schäden ahnten sie damals noch nichts.

Die Geschichte von Toms Herkunft gleicht vielen anderen Geschichten in Deutschland. Seine Mutter eine Frau, die selbst nie ein richtiges Zuhause kannte. Die trank und deren Mutter auch trank. Einen Vater hatte Tom nicht. Von den zahlreichen Liebhabern der Mutter weiß man nicht, wer sich an ihm vergriff – erst Jahre später wurde der sexuelle Missbrauch an Tom bewiesen.

Natürlich war er nach der Herausnahme untersucht worden – doch zu oberflächlich. Die Taubheit wurde nicht entdeckt, und erst als der Kleine nach einigen Monaten sagte: „Nichts in den Po stecken“, wuchs der schreckliche Verdacht. Schließlich wurde der Missbrauch nachgewiesen, doch die Spuren sind längst verwischt, und die Mutter lebt weit entfernt von Tom unter staatlicher Obhut und Therapie.

Das Ehepaar Müller konnte selbst keine Kinder bekommen.

Und sie wollten helfen. Das Jugendamt vermittelte ihnen schnell und unbürokratisch Tom. „Er hatte ein so herzliches, offenes Gesicht“, erzählen die Pflegeeltern. Beide wussten nicht, dass Toms Lächeln einer Überlebensstrategie folgte. „Er machte jeden an“, erzählt Dirk Müller. „Er wusste nicht, was kommt. Ob es etwas zu essen gab oder Schläge oder gar nichts. Er nahm, was er kriegen konnte.“ Der Junge versuchte, jede Gefahr wegzulächeln.

Tom erhielt mit den Müllers eine neue Familie. Bald merkten sie, dass etwas nicht stimmen konnte. Ständig sickerte Stuhl aus seinem Po, bis zu 15 Windeln mussten sie ihm am Tag umlegen.

Sein einziger Satz war: „Nach Dortmund essen gehn.“ Später erfuhren sie, dass ihn früher eine Tante und die Geschwister hin und wieder zu McDonald’s mitgenommen hatten. Und sie bekamen weitere Hinweise auf Missbrauch, als Tom die Tapete seines Zimmers mit Genitalien bemalte. Der sickernde Stuhl: ein Schutz des Pos vor Schlimmerem.

Da trugen sie den knapp Vierjährigen, fütterten, streichelten und küssten ihn, und er lernte laufen und sprechen.

Ein Lächeln genügt, und Tom himmelt Fremde an

Was genau in seiner ersten Familie geschah, das weiß Tom nicht. Aber es ist da. Er sitzt jetzt mitten auf dem Asphalt, Raureif belegt die Serpentinenstraße, eine weiße Schlange, deren Kälte in Toms Kleider zieht. „Stehst du bitte auf?“ Dirk Müller fragt leise, fast beiläufig. „Nein“, antwortet Tom laut. Tom ist wütend, keiner darf ihn anfassen, weil er gerade den Mann auch nicht anfassen durfte. Jenen Passanten, der vor fünf Minuten nach dem Weg zur Pferdekoppel gefragt hatte, der so nett aussah und auf den Tom zustürmte und den er umarmen wollte – bevor er von Dirk Müller zurückgerissen wurde. „Lass mich, nein, nein!“, sagt Tom jetzt. Der Passant, ein wenig verstört, ist längst weg.

Es geschieht immer wieder: Ein Lächeln genügt, und Tom himmelt Fremde an, will ihnen bedingungslos folgen, auf der Suche nach Orientierung und Geborgenheit. Jeden Tag aufs Neue verfängt sich Tom in einem Dickicht aus zweifelndem Argwohn und blindem Vertrauen gegenüber denen da draußen. Bindungen sind ihm unheimlich. Stets ist er auf der Hut – und möchte dennoch im nächsten Moment die ganze Welt umarmen. Gelingt das nicht, geht die Welt für ihn unter, dann wäscht er ein Auto mit Steinen, dann ist sein Kopf wie ein einziges Loch, in dem alles verschwindet.

Auch das Wissen, wie ein Kind spielt. Dann sitzt er auf dem Asphalt und will einfach nicht mehr weiter.

Dirk Müller friert. Die lange Unterhose hätte er anziehen sollen an diesem vogelzwitscherwarmen Wintermorgen, der nun, Stunden später, in ein dunkles Nachmittagskalt fällt. Dirk Müller setzt sich neben Tom auf die Straße. „Wollen wir ein Eis essen?“ – „Nein.“ – „Aber ich habe dich doll lieb.“ – „Ich will Schoko.“ Die Liebe muss Tom jeden Tag neu bewiesen werden. Jeden Tag fragt er ab, ob ihm die Pflegeeltern nicht doch Böses antun werden – deswegen provoziert er, bockt er und schreit. Und beruhigt sich in den Armen von Dirk Müller, dessen Gesicht von Verzicht gezeichnet ist. „Seit sieben Jahren steckt Tom in einer Trotzphase“, sagt er und kneift die Augen wie die einer Eule zusammen, seine Hand am gepflegten Dreitagebart. Trotz seiner elf Jahre betrage Toms soziales Alter etwa drei Jahre. So oft sage er Nein. Seinen Job als Seefahrtlehrer hat Müller aufgegeben, nachdem er gemerkt hatte, welche „Kiste“ mit Tom bei ihnen einzog.

Das Geld verdient nun Ehefrau Anke als Verwaltungsbeamtin, 900 Euro bekommen sie vom Jugendamt, es reicht so gerade. Dirk Müllers neue Berufsbeschreibung ist: Ruhe stiften.

Denn Toms Körper spielt verrückt. Sein Gehirn ist durch die Traumata fehlgekoppelt, es schüttet jeden Tag ein Stresshormon aus, das Nervenbahnen angreift und Tom hyperaktiv macht, zu einem zappelnden Gefangenen seiner selbst.

Hirnforscher entdeckten diese Fehlfunktion beim Menschen erst vor knapp zehn Jahren. Sie entsteht, wenn sich lebensbedrohender Dauerstress über mehrere Monate hinzieht. „Chronischer Hypercortisolismus“ nennen die Mediziner diese Krankheit. Dirk Müller sagt einfach: „Crashkids“. Ein Medikament dagegen wird es wohl nie geben. Noch wissen die Forscher zu wenig über das Gehirn. Aber sie wissen, dass Tom kein Einzelfall ist. In Deutschland leben rund 20.000 Kinder, die schwere Traumata erlebt haben.

Bei fast jedem von ihnen stoßen Ärzte auf das Stresshormon.

Die Folgen: Oft können diese Kinder keinen richtigen Gedanken fassen, er entschlüpft ihnen. Und dann zappeln sie.

Tom wechselt die Schule

Nur Ruhe hilft. Und Geborgenheit. „Wie bei einem Schlaganfall“, erklärt Dirk Müller. „Da bleibt das Leben stehen, die Routine fällt weg, und eine langfristige Therapie beginnt.“ Die Wirklichkeit sieht für Tom anders aus. Da war zum Beispiel die Spieltherapie, die das Jugendamt bezahlte und auslaufen ließ, weil es keinen Fortschritt sah. Da ist zum Beispiel die Schule. Tom geht in die 4. Klasse einer Schule für Körperbehinderte, dort behandelt man ihn wie einen Infarkt-Patienten, der statt zur Reha zurück in den Job geschickt wird.

Toms Traumata erkannte die Schule in einem Gutachten nicht an. Weil Zusatzgeräte fehlen, funktioniert sein Hörgerät an vielen Stellen des Schulgebäudes nicht, eine Sprachförderung ist nicht vorgesehen. Auch seine streng vorgeschriebene Diät hält die Schule nie richtig ein; sein Darm ist aber durch den Missbrauch kaputt und verträgt nur Schonkost – weder Milchzucker, Zwiebeln noch Knoblauch. Sonst „schmiert“ der Stuhl, sagt Dirk Müller, und Tom spürt ihn nicht fließen, weil die Nerven da hinten nicht mehr richtig arbeiten.

Dirk Müller forderte, dass der Junge nur wenige Stunden täglich am Schulunterricht teilnehmen sollte. Die Lehrer bestanden auf Ganztagsbeschulung. Wenn Tom am Spätnachmittag nach Hause kommt, ist er aufgeregt und angespannt. „Die Lehrer sind oft gut“, sagt Dirk Müller, „aber sie haben keine Erfahrungen mit schwer traumatisierten Kindern. Sie setzen die Psyche sicher gebundener Kinder voraus.“ Seit Kurzem besucht Tom eine andere Schule, eine für geistig Behinderte. „Tom wird ruhiger, die Schule arbeitet mir endlich zu“, sagt Dirk Müller. Ein Gespräch mit dem stern über die Vorwürfe lehnt Toms alte Schule ab. „Wir haben ihn sehr gemocht und wünschen ihm alles Gute“, heißt es. „Ich hatte das Gefühl, die Lehrer scheuen sich vor Toms Vergangenheit“, sagt Anke Müller.

Lieber würde man so tun, als wäre der Junge ein Zappelphilipp, einer halt, bei dem sich das auswächst.

Crashkids ohne Freunde

Um zu reden, um zu erzählen, wie es ihr mit ihrem Pflegekind wirklich geht, muss Anke Müller an diesem Abend einen schmucklosen Ziegelflachbau betreten. Ein langer Bürotisch unter zwei Neonröhren, das bleiche Licht spürt jede Gesichtsfalte auf.

Doch hier will keiner etwas verstecken. Beim monatlichen Treffen des „Vereins der Pflege- und Adoptiveltern“ reden sie oft hastig und durcheinander, als reiche die Zeit nicht. Heute sind es elf. Alle haben ein schwer traumatisiertes Kind daheim. „Man wird einsam“, sagt ein Mittvierziger. Zuerst kämen die Freunde nicht mehr zu Besuch, dann lüden sie einen nicht mehr ein. Die Crashkids vergraulen sie. „Uns bleiben konstruierte Begegnungen“, sagt seine Ehefrau. Die Vereinseltern gehen untereinander mit ihren Kindern aus, in den Zoo oder in Parks. „Alle unsere Kinder sind so, da muss man nichts erklären.“ Einen Freund hat kein einziges ihrer Crashkids.

Da sind die Hausfrau und der Bauingenieur aus der Nachbarstadt. Weil ihre Tochter eine schwere Herzkrankheit überstanden hatte, erfüllten sie ein Gelübde und nahmen ein Crashkid auf. Schwerste Behinderungen hatte man festgestellt, ein Schädel- Hirn-Trauma wegen Schüttelns und anderer Misshandlungen.

Keine Therapie sei mehr möglich, ein Pflegefall im Dauerbett, sagten die Ärzte. Da fuhren die neuen Eltern nach Belgien und steckten ihre Ersparnisse in eine Therapie zum Schwimmen mit Delfinen – und inzwischen läuft ihr Thomas* und geht zur Schule.

Die Kasse zahlte dafür nichts. Das Stresshormon, das den Körper durchschüttelt, ist geblieben. „Ein normales behindertes Kind würden wir jederzeit wieder aufnehmen, ein behindertes und traumatisiertes nie mehr.“

Da sind der Hochbau-Angestellte und die Krankenschwester. Einen Notfall, einen verdurstenden Säugling neben der depressiven Mutter, nahmen sie zu sich und ihren drei Kindern. Mit dem Jugendamt lagen sie sechs Jahre im Rechtsstreit.

Die Behörde wollte den kleinen Lukas* wieder bei der „Herkunftsfamilie“ sehen. „Elterliches Recht geht vor“, sagte der Amtsleiter – obwohl Lukas schrie und sich den Kopf blutig schlug, sobald er die Mutter sah. Das Gericht verschob eine Entscheidung so lange, bis die Richterschaft wechselte. Der neue Rechtswahrer attestierte dem Jugendamt Rechtsbeugung und sprach Lukas den Pflegeeltern zu. „Was macht ihr bei Schreikrämpfen?“, fragen sie in die Runde.

In diesem kahlen Gemeinderaum geht es zu wie in einem exklusiven Klub. Der Preis ist hoch. Nur hat keines der Mitglieder die Abgrenzung gewollt. Vom Kirchturm gegenüber schlägt es zehn, Dirk Müller verabschiedet sich. Er müsse noch einmal joggen.

Hier ist alles Kind

„Unten läuft der Körper, und oben dreht der Kopf. So kommt man aus depressiven Phasen raus.“ Fünfzehn Freunde sitzen um Tom herum. In genauer Position, wie jeden Morgen, blicken der Hund und die Katze, der Bär und der Drache aus Plüsch Tom in seinem Zimmer an, während der am Schalter seines Hörgeräts nestelt. Es ist Samstag, neun in der Früh. In einer Stunde ist Reittherapie in der Nachbarstadt, danach folgen Legasthenieübungen und später Kommunionsunterricht in der Kirche, der kostet nichts, wenigstens der.

Für die Therapie und die Übungen zahlen Müllers. Als der Schalter am Ohr einrastet und die Schwingungen des Raums elektrisch verstärkt durch den Gehörgang rasen, zucken Toms Augen kurz auf. Stumm dagegen sind die Plüschtiere und auch die sechs Poster mit Tierbabys an der Wand. Hier ist alles Kind. Neben dem Nachttisch steht eine leere Nuckelflasche, die verlangt er jeden Abend.

„Kommst du mit?“, fragt Tom. „Unser Auto ist ganz stark.“ Schnurrend gleitet der Golf eine Serpentine hinauf in die Berge, Schneeflocken tanzen in der Winterluft. Der Wagen biegt in einen ungepflasterten Seitenweg ab, im zweiten Gang geht es entlang dichtem Baumwerk, dann öffnet sich eine weite Lichtung.

Die Pferdekoppel. Tom springt als Erster aus dem Auto, rennt zum Stall. Fünf Teenager warten schon auf ihn, der Lehrer hilft ihm auf einen braunen Wallach. „Los, los“, drängt Tom.

Keiner der Gleichaltrigen hier kennt seine Vergangenheit. Hier ist er kein Crashkid, hier ist er ein Cowboy. Er führt die Gruppe an. Sieben Pferde traben die Wiese hinauf, entlang zahllosen entwurzelten Bäumen, der Orkan „Kyrill“ hatte sie vor einem Jahr aus dem Boden gerissen. „Hüüah!“, ruft Tom. Der Wallach galoppiert.

„Warte“, ruft der Lehrer, „nicht so schnell!“ Doch Tom lässt die anderen hinter sich, sein Körper legt sich auf den Wallach und ist bald nur noch ein ferner Punkt. Keine Menschen mehr. Nur noch feiner, unberührter Schnee.

* Alle Namen geändert

Lesen Sie im neuen stern, wie es Tom, 23, heute geht.



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