Den Coronaviren auf der Spur – warum es länderspezifische Immunitäten gibt und was das für angepasste Impfstoffe bedeutet

Ulrich Elling ist Biologe und arbeitete vor der Corona-Pandemie in der Stammzellenforschung. Als die Alpha-Variante aufkam, hat er im Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien eine neue Methode entwickelt, mit der die Sequenzierung von Coronaviren in einem hohen Durchsatz möglich ist. Bei einer Sequenzierung wird das Erbgut des Virus aufgeschlüsselt. In seinem Labor schaut er sich systematisch für ganz Österreich an, wie sich das Coronavirus verändert und welche Mutationen sich durchsetzen. Die Erkenntnisse gibt er auch an die Weltgesundheitsorganisation weiter.

International hat sich mittlerweile eine Virus-Jäger-Szene gebildet. Neu auftauchende Varianten werden quasi live in der Fachwelt diskutiert, wenn neue Sequenzen in der Datenbank namens "GitHub" auftauchen. Im Interview erklärt Ulrich Elling, warum es länderspezifische Immunitäten gibt und was das Auftauchen immer neuer Varianten für die Entwicklung von angepassten Corona-Impfstoffen bedeutet.

Sie sind immer auf der Suche nach neuen Corona-Varianten. Was beobachten Sie momentan?

Ulrich Elling: Noch ist die neu aufgetauchte BA.2.75-Linie auf der Poleposition für die nächste dominante Variante. Es ist eine Variante, die sich in Indien ziemlich zügig von BA.5 absetzt. Unter den Omikron-Varianten setzten sich aber nun auch Mutationen im Spike-Protein, dem Gen des Virus durch die es in menschliche Zellen eindringt, an Stelle 346 durch. Diese Mutationen erlauben verschiedenen Sublinien von BA.4 und BA.5 sich noch besser zu vermehren. Außerdem gibt es eine Rekombinante von BA.1 und BA.2, die wahrscheinlich in Deutschland entstanden ist. Sie hat viele ähnliche Mutationen mit BA.2.75 und auch eine Mutation in 346.

Was haben Sie im Verlauf der Pandemie über die Evolution von neuen Varianten gelernt?

Das Universum an Virus-Varianten ist natürlich nicht unendlich. Der Grund: Das Spike-Protein muss immer noch der Funktion genügen, als Enterhaken zu fungieren, um in unsere Zellen einzudringen. Das ist ein sehr komplexer Vorgang, deswegen ist das Spike-Protein nicht beliebig formbar. Aber wir haben gesehen, dass wir noch sehr weit von den Grenzen des Universums entfernt sind.

Bisher hatten wir in der Pandemie immer eine Variante, die dann durch eine völlig andere Variante abgelöst wurde. In den letzten Monaten sind zum ersten Mal Untervarianten parallel aufgetaucht. Wir beobachten nun eine weitere Diversifizierung. Es wird immer schwieriger, den Überblick zu behalten. Das Virus sucht überall verschiedene Lösungen, um unsere Immunität zu umgehen.

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In Indien wurde erstmals der Omikron-Subtyp BA.2.75 entdeckt. In Indien gab es keine BA.1-Welle, dafür aber eine BA.2-Welle. In Deutschland wiederum haben beide Varianten etliche Infektionen ausgelöst. Welche Ursachen hat es, dass eine Variante in einem Land eine Welle auslöst, in anderen Ländern aber nicht?

Ob sich Varianten durchsetzen, hängt mit der Immunität zusammen und mit den Maßnahmen. Auch wie lange die letzte Welle her ist und saisonale Effekte spielen eine Rolle. BA.1 und BA.2 kamen in Indien beide an, aber nur BA.2 hat sich durchgesetzt. Der Subtyp BA.5, er ist verantwortlich für die Sommerwelle in Deutschland, kann besonders gut die Immunität von BA.1 umgehen, aber nicht so gut von BA.2. BA.5 unterscheidet sich nur in drei Mutationen von BA.2. Ein weiterer Punkt, warum sich in Indien BA.5 nie durchgesetzt hat, könnte die starke Delta-Immunität sein. Denn Indien hatte eine sehr ausgeprägte Delta-Welle. Eine Mutation von Delta taucht auch in BA.5 wieder auf. Die Immunität durch Delta und BA.2 schützt wahrscheinlich relativ gut vor BA.5. Das Virus musste sich also weiter entwickeln und hat für Indien nun mit BA.2.75 eine Lösung gefunden, um die indische Immunität zu umgehen. Man wird sehen, ob sie in Europa einen ähnlichen Vorteil bringt.

Was könnte im Herbst und Winter in Europa kommen?

Mit jeder neuen Variante steigt die Wahrscheinlichkeit für eine neue Welle, weil das Coronavirus so einen Weg findet, unsere Immunität zu umgehen. Vor Omikron haben sich alle neuen Varianten aus dem ursprünglichen Virus, also dem Wildtyp, entwickelt. Mittlerweile sind wir bei den Varianten aus Varianten angekommen – also Varianten zweiten Grades. Die Frage ist also, ob sich noch mal eine Variante ersten Grades entwickelt oder es bei Varianten zweiten Grades, also Omikron-Varianten, bleibt.

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Das heißt konkret?

Varianten setzen sich durch, wenn sie unsere Immunität noch besser umgehen können. Infektiosität spielt nun eine untergeordnete Rolle. Es ist also völlig erwartbar, dass es weitere Varianten von BA.2 geben wird, die unsere Immunität umgehen. Aber es muss keineswegs bei Omikron-Varianten bleiben.

Was ist die größte Sorge?

Dass eine neue Variante auftaucht, die niemand mehr erwartet. Der Vorläufer von Omikron wurde ein Jahr nicht gesehen und plötzlich wurde daraus Omikron. Dieses Virus hat sich wahrscheinlich ein Jahr lang in einem immunsupprimierten Patienten versteckt und ist dort so lange mutiert, bis es der Immunität entkommen konnte und hat sich über die Welt verbreitet. Ähnlich lief es auch bei all den anderen früheren Varianten. Dies könnte wieder passieren: Wir kennen viele Fälle, bei denen immunsupprimierte Patienten mehr als ein Jahr Corona-positiv sind, weil sie es einfach nicht schaffen, die Krankheit zu bekämpfen. Vor einem Jahr hätten sie sich aber noch mit Delta oder einer noch früheren Variante angesteckt. Kommt es zu so einem Fall, wären die Karten für klinische Verläufe wieder neu gemischt.

Was bedeuten die länderspezifischen Immunitäten und die immer neu auftauchenden Varianten für die Entwicklung von angepassten Impfstoffen?

Es gibt nicht nur länderspezifische Immunitäten, sondern natürlich personenspezifische Immunitäten. Ich bin dreimal geimpft und habe mich kürzlich mit BA.5 infiziert. Eine andere Person aber hat sich zuerst infiziert und wurde dann geimpft. Optimal wäre es eigentlich, den Impfstoff nach der jeweiligen Immunitätsgeschichte auszuwählen.

Die Herstellung von neuen angepassten Impfstoffen funktioniert sehr schnell. Im Versuch mit Mäusen konnte die Wirksamkeit der angepassten Omikron-Impfstoffe zügig nachgewiesen werden. Doch gesetzlich notwendige Studien in Europa verlangsamen den Prozess der Zulassung: Es müssen Proband:innen für Studien gesucht werden und um die anhaltende Schutzwirkung zu sehen, müssen sie über ein paar Monate hinweg beobachtet werden.

Ist das problematisch?

Durch diese Vorgehensweise ist der Impfstoff untersucht, wenn die Welle wieder vorbei ist. Wir rennen in der Impfstoffentwicklung, also dem Virus immer hinterher. Aktuell verursacht BA.5 die meisten Fälle in Deutschland und Österreich. Wir werden im Herbst aber wahrscheinlich einen angepassten BA.1-Impfstoff bekommen. Das Problem: Die BA.1-Welle ist schon längst vorbei und BA.5 kann die Immunität von BA.1 relativ gut umgehen. Der Schutz dürfte also nicht lange effektiv sein. Wir bekommen einen veralteten Impfstoff und zudem noch gestreckt mit dem Impfstoff der ersten Generation, was nachweislich die Schutzwirkung herabsetzt.

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Gäbe es eine andere Möglichkeit?

In den USA hat man einen anderen Weg eingeschlagen. Die zuständige Food and Drug Administration hat entschieden, dass der Impfstoff auf BA.5 angepasst werden soll. Dieser BA.5-Impfstoff wird provisorisch zugelassen und die Zulassungsstudie durchgeführt, wenn der Impfstoff bereits in der Bevölkerung verimpft wird. Ein Vorgehen wie bei der Grippeimpfung.

Aufgrund der unterschiedlichen Zulassungsregelungen sieht es nun zum ersten Mal so aus, dass die USA einen besseren Impfstoff zur Verfügung haben als wir in Europa. Viele Impfexpert:innen sprechen sich für eine Zulassung der angepassten Corona-Impfstoffe ohne Zulassungsstudie aus. Denn: Ohne optimal angepassten Impfstoff wird es zu mehr Krankheitsfällen kommen und somit mit Sicherheit auch zu schweren Verläufen und Todesfällen. In einer Zulassungsstudie können sehr seltene Impfkomplikationen ohnehin nicht aufgedeckt werden, weil die Proband:innenzahl zu gering ist, um dies zu entdecken.

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