„Kranke zweifeln oft, ob ihnen Hilfe zusteht“

Psychotherapieplätze sind in Deutschland Mangelware, und das ist vor allem ein Problem für die Patienten. Die psychisch Kranken müssen in ihrer Not warten, oft monatelang, bis sie einen Therapieplatz bekommen. Es ist auch ein Problem der Gemeinschaft, denn die Kosten gehen zu Lasten der Allgemeinheit: Die Zahl der Krankentage wegen psychischer Probleme hat sich einem Krankenkassenbericht zufolge zwischen 2007 und 2017 von 48 Millionen auf 107 Millionen mehr als verdoppelt.

Dass sich etwas an diesem Zustand ändern muss, ist klar.

Mit seinem Vorschlag, die Wartenden in Kranke und psychisch Gesunde in Lebenskrisen zu unterteilen, erweist der Psychiater Manfred Lütz den Betroffenen allerdings einen Bärendienst. Denn Kranke zweifeln oft, ob ihnen Hilfe überhaupt zusteht.

Dabei fällt vielen der Weg zum Psychotherapeuten ohnehin schon unglaublich schwer. Oft warten die Betroffenen viel zu lang, bis sie nach einem Behandler suchen. Sie schämen sich, haben Angst oder ihnen fehlt der Antrieb.

Psychische Probleme kleingeredet

Dass sich dieser Trend in den vergangenen Jahren gewandelt hat, ist erfreulich für die Patienten. Ein zielführendes Instrument dafür ist die seit April 2017 existierende psychotherapeutische Sprechstunde. Dabei handelt es sich um ein niedrigschwelliges Beratungsgespräch, in dem sich Menschen ohne lange Wartezeit eine Einschätzung ihrer Beschwerden geben lassen können. In etwa 90 Prozent dieser Gespräche erhalten die Menschen eine Diagnose.

Wer jetzt dennoch suggeriert, in den Behandlungssesseln der Psychotherapeuten Deutschlands säßen vornehmlich Gesunde, die „aus irgendwelchen Gründen Gesprächsbedarf“ hätten, redet die psychischen Probleme der Betroffenen zu Unrecht klein. Denn hierzulande muss man nicht kurz vor dem Suizid stehen, um eine Psychotherapie in Anspruch nehmen zu dürfen. Auch bei Angststörungen, Dysthymie, Essstörungen oder psychosomatischen Erkrankungen steht Betroffenen eine Psychotherapie zu.

Erst die Diagnose, dann die Therapie

Die unzureichenden Ressourcen etwa auf schwer depressive Patienten zu konzentrieren, würde bedeuten, anderen die Therapie vorzuenthalten. Denn: Die Decke ist zu kurz, und Herr Lütz schlägt vor, dass jetzt die Füße statt der Schultern frieren sollen. Der öffentliche Auftrag lautet bisher aber, den ganzen Körper zu wärmen.

Zudem unterstellt das Bild von den Gesunden in Lebenskrisen, dass die Psychotherapeuten ihre Arbeit nicht machen. Dabei gehört es zu unseren ureigensten Aufgaben, im Rahmen der Probestunden mit Diagnostik und Indikationsstellung zu überprüfen, ob eine psychische Störung mit Krankheitswert vorliegt. So wie ein somatischer Arzt auch zunächst eine Diagnose stellt, bevor er behandelt. Dieser Vorgang ist eine wesentliche Voraussetzung für die Kostenübernahme durch die Krankenkasse.

Gesunde nach Hause schicken

Was ich als Therapeutin täte, wenn ich bei demselben Honorar entweder einen schwer gestörten Menschen oder einen Gesunden mit Gesprächsbedarf behandeln könnte? Ich würde den gesunden Menschen nach Hause schicken und den schwer gestörten Menschen behandeln. Weil es mein Beruf ist, kranken Menschen zu helfen, und ich diesen Beruf liebe. Warum sollten Psychotherapeuten eine jahrelange, teure Ausbildung durchlaufen, um ihr Handwerkszeug zu erlernen, dieses dann aber nicht anwenden wollen?

Zwar wollen und müssen auch Psychotherapeuten mit ihrer Arbeit Geld verdienen. Dafür bereichern wir uns aber nicht am Patienten. In ärztlichen Gehaltsrankings rangieren die Psychotherapeuten seit jeher mit deutlichem Abstand auf dem letzten Platz. Die sprechende Medizin genießt in unserem Gesundheitssystem keinen hohen Stellenwert – zumindest nicht materiell gesehen.

Auch die Bundespsychotherapeutenkammer setzt sich als gesetzlich vorgeschriebenes Selbstverwaltungsorgan für eine bessere Versorgung von psychisch Kranken ein. Diese demokratisch verfasste Körperschaft öffentlichen Rechts als Lobbyverband zu bezeichnen, ist schlicht falsch. Die Kammer nimmt weder verdeckt Einfluss, noch steckt sie Entscheidungsträgern Geld zu oder versucht, diese mit Vergünstigungen zu beeinflussen. Die Kammer kann sich gegenüber anderen Akteuren im Gesundheitswesen mit Argumenten durchsetzen – mehr nicht.

Wie könnte verbesserte Versorgung aussehen?

Die naheliegendste Lösung ist, mehr Behandlungskapazitäten zu schaffen. Nach aktuellen Schätzungen fehlen bundesweit 7000 psychotherapeutische Praxen, vor allem im ländlichen Bereich und im Ruhrgebiet. Bevor jetzt ein Aufschrei kommt: Der einzelne Therapeut würde dadurch keinen Cent mehr verdienen. Zudem nehmen die Gesamtaufwände für Psychotherapie nur einen geringen einstelligen Prozentsatz der gesamten Gesundheitsausgaben ein. Es handelt sich dabei um erwiesenermaßen gut investierte Ausgaben, die Kosten an anderer Stelle – etwa durch Krankschreibungen – einsparen.

Ein weiterer Ansatz besteht darin, Gruppentherapien besser zu vergüten. Diese sind sehr wirksam, und es können mehr Patienten gleichzeitig behandelt werden. Eine Therapiegruppe zusammenzustellen bedeutet allerdings einiges an organisatorischem Aufwand, der bisher nicht angemessen honoriert wird. Dies ist einer der Gründe, warum bisher nur etwa fünf Prozent aller ambulanten Psychotherapien als Gruppentherapien durchgeführt werden.

Darüber hinaus gibt es chronisch psychisch kranke Patienten, für die eine ambulante Psychotherapie allein nicht die richtige Behandlungsform ist. Diese benötigen eine stationäre Behandlung oder Konzepte, die ihnen helfen, zu Hause zurechtzukommen. Unter den Begriffen Home Treatment oder Gemeindepsychiatrie müssten dann medizinische, psychotherapeutische und soziale Unterstützungsangebote ineinandergreifen. Bislang ist das oft noch schwierig, weil auch hierfür das Geld fehlt.

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