Coronavirus: »Es hat sich die Einstellung ausgebreitet: Das läuft jetzt sowieso durch«

SPIEGEL: Herr Kaderali, mit 262.752 Neuinfektionen binnen 24 Stunden haben die Ansteckungen mit dem Coronavirus am Donnerstag ein neues Rekordhoch erreicht, auch die Sieben-Tage-Inzidenz ist gestiegen. Ab dem 20. März sollen viele Schutzmaßnahmen nicht mehr gelten. Was ist aktuell anders als in den Wellen zuvor?

Kaderali: Es erkranken derzeit zwar sehr viele Leute. Und die erkranken auch so, dass sie Symptome eines grippalen Infekts bekommen, aber die Auslastung der Intensivstationen ist bei der aktuellen Inzidenz von 1388,5 deutlich niedriger, als das in der Deltawelle mit wesentlich geringeren Inzidenzen der Fall war. Und das macht im Moment den Unterschied aus. Ursächlich dafür ist zum einen die mildere Omikron-Variante, aber vor allem auch die Impfungen.

Lars Kaderali, 47, leitet das Institut für Bioinformatik an der Medizinischen Fakultät der Universitätsmedizin Greifswald. Er ist Mitglied des Expertengremiums, das die Bundesregierung in Fragen der Coronapandemie berät.

SPIEGEL: Sehen Sie unter den jetzigen Voraussetzungen noch die Gefahr, dass das Gesundheitssystem überlastet wird und eine Triage drohen könnte?

Kaderali: Die Gefahr einer Triage sehe ich nicht so sehr. Was wir aber sehen ist, dass die Belastung insbesondere auf den Normalstationen regional stark ansteigt. In Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise haben wir mit 2033,6 im Moment die höchste Sieben-Tage-Inzidenz bundesweit. Hier gab es im Gegensatz zu vielen anderen Bundesländern nicht den Rückgang der Welle mit BA.1. Hier ist Omikron erst später eingetragen worden und jetzt kommt die Welle mit BA.2 quasi obendrauf. In Greifswald, in der Klinik, in der ich arbeite, hatten wir noch nie so viele Patienten mit Corona auf Normalstation wie jetzt. Diese Patienten sind zur Hälfte wegen Corona da, zur Hälfte sind sie infiziert, aber wegen anderer Krankheiten stationär aufgenommen. Aber das ändert an dem Aufwand für die Klinik nichts, was die Isolationsmaßnahmen betrifft. Und wir haben einen extrem hohen Krankenstand beim Personal. Das zeigt diese durch Omikron bedingte Verschiebung: Die schweren Verläufe sind seltener, dafür stecken sich viel mehr Menschen an und das schlägt auf den Normalstationen durch. Da sehe ich schon die Gefahr, dass es zumindest regional zur Überlastung kommt.

SPIEGEL: Welche anderen Gefahren sehen Sie, derentwegen es noch immer sinnvoll sein könnte, die Fallzahlen durch Maßnahmen zu begrenzen?

Kaderali: Die Langzeitfolgen von Covid-19 sind immer noch unklar, wir haben dazu nach wie vor nur eingeschränkt Daten. Wir wissen auch nicht, ob Long Covid nach einer Omikron-Infektion ein großes Problem wird oder nicht. Man kann schon Sorge haben, dass wir mit den hohen Inzidenzen in einem Jahr sehr viele Personen haben werden, die mit Langzeitfolgen kämpfen. Das ist ein Aspekt, der in der Diskussion im Moment ziemlich untergeht. Es hat sich die Einstellung ausgebreitet: Das läuft jetzt sowieso durch, die Leute kommen nicht mehr so oft ins Krankenhaus und deshalb kann man es laufen lassen.

SPIEGEL: Ist es denn aus Ihrer Sicht wissenschaftlich gerechtfertigt, jetzt zu lockern?

Kaderali: Das ist ein Abwägungsprozess, das muss man ganz klar sagen. Wenn das Ziel ist, die Zahl der Neuinfektionen unten zu halten, die Inzidenzen wieder zu senken, dann ist die Lockerung aus wissenschaftlicher Sicht im Moment das Falsche. Wenn man aber sagt, es geht darum, die Überlastung auf den Intensivstationen zu verhindern, dann kann man Lockerungen zum jetzigen Zeitpunkt vertreten. Es ist letztlich eine politische Abwägung, bei der man sich fragen muss, was man in Kauf nehmen möchte. Nicht zu lockern hat auch Konsequenzen und auch eine schädliche Wirkung. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich mir nicht vorstellen, dass man hier in Mecklenburg-Vorpommern die neuen Lockerungsschritte mitgehen kann, sollten sich die Zahlen so weiter entwickeln. Ich halte es für extrem wichtig, das Infektionsgeschehen regional differenziert zu betrachten und den Bundesländern die Werkzeuge zu lassen, die Maßnahmen regional anzupassen und gegebenenfalls stärkere Schutzmaßnahmen aufrechtzuerhalten. So wurde es ja auch beschlossen.


SPIEGEL: An welchen Indikatoren sollte festgemacht werden, dass die Politik wieder mit Maßnahmen gegensteuern sollte?

Kaderali: Die Inzidenzen zeigen relativ früh das Infektionsgeschehen an. Auch wenn sie keine Aussagen über die Auslastung der Krankenhäuser zulassen, sind sie ein guter Indikator, um daraus mögliche Personalausfälle in den Kliniken und der kritischen Infrastruktur abzuleiten. Wenn es darum geht, einen Kollaps des Gesundheitssystems abzuwenden, dann spielen die Hospitalisierungsinzidenz und die Intensivauslastung verstärkt eine Rolle. Mein Rat wäre, sich nicht auf einen Parameter zu konzentrieren, sondern alle im Auge zu behalten.

SPIEGEL: Mit den Lockerungsmaßnahmen ist auch mehr Eigenverantwortung von den Menschen gefordert. Worauf sollte man auf jeden Fall achten?

Kaderali: Die Maske ist aus meiner Sicht das wichtigste Element. Die Selbsttests funktionieren leider bei Omikron zum Teil nicht gut. Vor allem in der Frühphase einer Infektion, in der jemand schon ansteckend sein kann, aber noch keine Symptome hat, haben sie, auch abhängig vom Hersteller, teilweise eine sehr niedrige Sensitivität. Das heißt, man sollte nur weil man einen negativen Test hat, nicht ohne Schutzmaßnahmen ins Pflegeheim gehen. Man muss sich ins Gedächtnis rufen, dass diese Tests nicht dafür gedacht sind, um irgendwelche Veranstaltungen abzusichern. Es geht ganz einfach ums eigene Verhalten: Je mehr Kontakte man hat und je mehr Kontakte man ungeschützt hat, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch eine Infektion stattfindet. Das betrifft vor allem natürlich Kontakte in Innenräumen, in großen Gruppen und ohne Schutzmaßnahmen. Im Prinzip gelten die üblichen Basisschutzmaßnahmen, wie Lüften, Abstand halten, Maske tragen und Händewaschen. Das sind ja Dinge, die wir mittlerweile seit Jahren praktizieren.

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