Nichtraucherin, jung, Lungenkrebs: "Ich will nicht jeden Tag leben als würde ich morgen sterben"

Eben noch ist der sehnlichste Wunsch von Lisa B.* gewesen, schwanger zu werden – mit ihrem Mann eine Familie zu gründen. Sie hatten sich einen Plan für ihr Leben gemacht. Heute plant die 34-jährige Hamburgerin nicht mehr als drei Monate voraus, denn wie viel Lebenszeit ihr noch bleibt, weiß sie nicht. Ihre Diagnose: Lungenkrebs im Endstadium.

Ihr Leben ist ein Spiel auf Zeit geworden: Jeder Tag, an dem ihre Behandlung weiter anschlägt, ist ein Tag an dem Forscher:innen ein neues Medikament entwickeln könnten. Ein Medikament, das Lisa B. nehmen könnte, um noch einige Jahre weiterzuleben. Wie ihr Leben sich seit der Diagnose anfühlt, beschreibt sie so: "Mein Leben bewegt sich zwischen dem Genießen des Hier und Jetzt und dem Alltag. Ich will ja jetzt nicht jeden Tag leben als würde ich morgen sterben – das wäre ja auch irgendwie hoffnungslos." Die 34-Jährige gehört zu einer kleinen Gruppe an Patient:innen, die Lungenkrebs bekommen haben, obwohl sie nicht rauchen.

Fakten zu Lungenkrebs

Lungenkrebs ist in Deutschland immer noch eine häufige Todesursache. 44.601 Menschen sind laut Statistischem Bundesamt 2021 an Lungen- und Bronchialkrebs gestorben. Ein Hauptrisikofaktor für diese Krebsart ist das Rauchen: Bis zu 90 Prozent der Lungenkrebsfälle bei Männern und bis zu 60 Prozent bei Frauen sind auf das Rauchen zurückzuführen, heißt es vom Deutschen Krebsforschungszentrum.

Doch auch Menschen, die nicht rauchen, können an Lungenkrebs erkranken. Laut einer Studie aus den USA aus dem Jahr 2020 sind es unter 100 neudiagnostizierten Lungenkrebspatient:innen 12, die noch nie geraucht haben. Bekannt ist, dass Lungenkrebs bei Nichtraucher:innen häufiger bei Frauen auftritt und eher in einem jüngeren Alter als Lungenkrebs bei Raucher:innen.

Lungenkrebs: Treibermutationen als Auslöser

Warum eher Nichtraucherinnen Lungenkrebs bekommen als Nichtraucher sei wissenschaftlich noch nicht geklärt, sagt Prof. Carsten Bokemeyer, Onkologe und Klinikdirektor am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. In den letzten zehn Jahren sind Lungenkrebserkrankungen genetisch genauer untersucht worden. Was auffiel: "Es gab immer eine Gruppe von Patient:innen, bei denen immer eine Mutation dafür verantwortlich war, dass die Tumorzelle einen Wachstumsvorteil hat."

Bei den Nichtraucher:innen werde bei mehr als der Hälfte der Patient:innen der Krebs durch sogenannte Treibermutationen ausgelöst, sagt Bokemeyer. Normalerweise wird im Körper das Wachstum von Zellen gesteuert – sie können sich nicht ungehindert vermehren. "Die Treibermutationen sorgen dafür, dass quasi der Schalter, der das Wachstum steuert, nicht mehr funktioniert. Die kranken Zellen werden zum Wachstum angeregt und so entsteht der Lungenkrebs", erklärt Dr. Birgit Hantzsch-Kuhn, Oberärztin an der Lungenclinic Großhansdorf. Warum diese Treibermutationen irgendwann auftauchen, ist noch nicht erforscht. Eine Annahme ist, dass Luftverschmutzung durch Feinstaubpartikel eine Rolle spielen könnten.

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Lisa B. wird anfänglich wegen Asthma behandelt

Auch bei Lisa B. hat eine solche Treibermutation den Lungenkrebs ausgelöst. Alles beginnt Mitte des Jahres 2021. Lisa B. beschreibt: "Ich hatte plötzlich immer wieder Magenkrämpfe, obwohl ich gar nicht der Typ bin, der Magen-Darm-Krankheiten kriegt." Im August bekommt sie Husten und immer häufiger Atemprobleme. Die Hamburgerin arbeitet zu dieser Zeit noch als Bewegtbildproduzentin in der Werbung. Hat viel Stress und sucht nach einem Lungenfacharzt, der Termine auch außerhalb ihrer Arbeitszeit anbietet. "Der Pneumologe meinte dann, dass es ganz sicher Asthma sei. Es wurde ein Test gemacht und ich bekam Sprays zur Behandlung. Der Arzt hat mich noch nicht mal abgehört."

Zug um Zug inhaliert Lisa B. die Asthmasprays, besser Luft bekommt sie nicht. Es verschlechtert sich: Im Herbst 2021 hört sie ein Geräusch beim Atmen. Sie besucht wieder ihren Pneumologen – und wird weiter wegen Asthma behandelt. "Mir ging es zu diesem Zeitpunkt vor allem mental so schlecht, dass ich meinen Job gekündigt habe, in der Hoffnung, dass meine körperlichen Symptome verschwinden." Das Gegenteil passiert – Lisa B. baut körperlich stark ab.

Weitere Wochen sind vergangen und Lisa B. geht zu einem anderen Pneumologen. Dann geht alles schnell: Röntgenbild, CT, Gewebeentnahmen. Am 30. Dezember 2021 weiß Lisa B. dann, dass sie Krebs hat. Die Probe wurde noch genau genetisch analysiert und bei weiteren Untersuchungen festgestellt, dass Lisa B. neben dem Tumor in der Lunge noch Metastasen in den Knochen, der Leber und den Lymphknoten hat. "Das war natürlich ein Schock, dass ich einfach schon so Krebs verseucht war und es so lange nicht bemerkt habe."

Lungenkrebs wird meist erst spät erkannt

Erst wenn Atemgeräusche, ein hartnäckiger Husten, Atemprobleme oder ein blutiger Husten auftreten, bemerken Patient:innen, dass etwas nicht in Ordnung ist. "Diese Symptome treten erst auf, wenn der Tumor bereits größer geworden ist. In einem Stadium, wo der Tumor noch ganz frisch ist, und mit einem kleinen Eingriff entfernt werden könnte, spüren die Patient:innen in der Regel noch nichts. Die Lunge selbst hat keine Schmerzfasern- und nerven – die Lunge tut Erkrankten also nicht weh", sagt Birgit Hantzsch-Kuhn.

Auch bei langwierigem Husten oder Atemgeräuschen denken viele Ärzt:innen bei jungen Nichtraucher:innen in ihren 30ern nicht an Lungenkrebs. Das liegt auch an der Art wie Ärzt:innen ausgebildet werden, schildert Birgit Hantzsch-Kuhn: "Wir werden in der Medizin so geschult, dass wir bei der Diagnose erstmal nach dem Wahrscheinlichen suchen – und Lungenkrebs bei einer jungen Nichtraucherin ist nun mal sehr unwahrscheinlich."

Der lange Weg zur Diagnose

Eine ewige Suche nach einer Diagnose kennt auch Laura S.* Die 34-Jährige lebt in Freiburg und machte gerade eine Umschulung zur Bürokauffrau, weil sie ihren Job als Restaurantfachfrau durch ihre chronische Krankheit Multiple Sklerose nicht mehr ausüben konnte. Sie bemerkt plötzlich im März 2020 ein Atemgeräusch und hat immer öfter ein Flimmern vor den Augen. In den Arztpraxen ist wegen der Corona-Pandemie viel los und Laura S. wird durch ihren Hausarzt eine Weile per Telefon krankgeschrieben.

Die Beschwerden werden immer schlimmer, es kommt im Laufe der Monate noch ein so starker Husten hinzu, dass Laura S. in den Nächten kein Auge mehr zubekommt. "Ich bin immer wieder zu meinem Hausarzt gegangen, aber er hat nur gemeint, dass er nichts hören würde."

Krankheit auf Google gefunden

Es folgen weitere Arztbesuche – im November 2020 ist es schließlich ein Lungenfacharzt der Laura S. für eine Bronchoskopie ins Krankenhaus schickt. Bei dieser Untersuchung wird eine kleine Kamera über Nase oder Mund eingeführt und die Lunge genau begutachtet. "Bei dem Vorgespräch zu der Untersuchung sagte eine Assistenzärztin dann unvermittelt zu mir etwas von einem Tumor  – das hatte bis dahin noch nie jemand erwähnt." 

Nach der Untersuchung erhält Laura S. einen Arztbrief, den sie mit ihrem Hausarzt besprechen soll. "Der Brief war offen, also habe ich mir meine Diagnose noch im Krankenhaus selbst ergoogelt." Laura S. wird von ihrem Vater von der Untersuchung abgeholt. Er ist selbst Chirurg – als er beim Lesen des Briefs in Tränen ausgebrochen sei, sei für sie klar gewesen, dass das, was sie in der Suchmaschine gefunden hatte, stimmen musste: Krebs.

Ein Wirrwarr an Behandlungsplänen

Doch wie es genau um sie steht, weiß Laura S. zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht. Es folgen weitere Untersuchungen, die zeigen, dass überall in Laura S. Körper Tumoren sind: in ihrem Gehirn, ihren Augen, in den Eierstöcken, in der Lunge. Als ihr in der Uniklinik die Diagnose mitgeteilt wird, sei die Ärztin in Tränen ausgebrochen. "Ich saß da und war fix und fertig, weil da so eine Frau Professor Doktor vor mir sitzt, selbst weint und nur sagt, dass es ihr so leidtue."

Laura S. schildert, dass sie danach einem Wirrwarr an Behandlungsplänen ausgesetzt gewesen sei. Letztlich wird sie an den Eierstöcken operiert und erst bei dieser Operation wird Gewebe von ihren Tumoren entnommen, um herauszufinden, wo der Ursprung ihrer Krebserkrankung liegt. Anfang Januar 2021 hat Laura S. dann ihre Diagnose: Lungenkrebs im Endstadium. Eine Schockdiagnose für die junge Frau, die nie im Leben geraucht hat. Auch bei ihr ist eine Treibermutation Auslöser des Krebs.

Krebstherapie greift gezielt Treibermutation an

Trotz ihrer weit fortgeschrittenen Krebserkrankung brauchen Laura S. und Lisa B. keine Chemotherapie. Sie werden mit sogenannten Tyrosinkinase-Inhibitoren behandelt. "Es handelt sich hierbei um Medikamente, die genau den Schlüssel, der durch die Mutation angetrieben wird, hemmen. Die Mutation A kann also nur mit dem Medikament A+ behandelt werden. Das Medikament B wäre an dieser Stelle völlig wirkungslos", erklärt Carsten Bokemeyer.

Durch die Behandlung mit diesen Medikamenten bilden sich die Tumoren zurück. Aber: Es ist nur eine lebensverlängernde Therapie. Früher oder später findet die Treibermutation einen Weg, um den Hemmer zu umgehen. Dann müssen Ärzt:innen wieder eine genetische Analyse des Tumorgewebes durchführen und sich nach einem neuen Medikament umschauen. "Eine weitere Säule der Behandlung ist die Immuntherapie, bei der dem Körper geholfen wird, die Krebszellen zu enttarnen und zu bekämpfen", erklärt Birgit Hantzsch-Kuhn.

Gegenüber einer Chemotherapie haben die Tyrosinkinase-Inhibitoren deutlich weniger Nebenwirkungen. Es treten aber häufig Hautveränderungen oder Probleme im Magen-Darm-Trakt auf. "Viele unserer Patient:innen können durch diese Medikamente ein relativ normales Leben führen – gehen arbeiten. In der Forschung werden immer wieder neue Medikamente entwickelt und das Ziel ist es, dass wir den Lungenkrebs irgendwann wie eine chronische Krankheit behandeln können und die Patient:innen damit noch sehr viele Jahre leben können", sagt Birgit Hantzsch-Kuhn.

Ein Leben auf Zeit, finanzielle Nöte und das Gefühl allein zu sein

Wie viele Jahre ihnen noch bleiben, wissen Lisa B. und Laura S. nicht. "Ich weiß gar nicht, ob ich es überhaupt schon verarbeiten konnte, in welcher Situation ich stecke", sagt Laura S. Gerne würde sie häufiger den Moment genießen. Es ärgere sie oft, dass sie sich so viel mit Alltäglichem beschäftigen müsse. Die junge Frau ist alleinstehend und kann aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten. Vor allem ihre finanzielle Situation bereitet ihr große Sorgen. Antrag um Antrag versucht sie, noch weitere Unterstützung zu bekommen, um ihre Miete und Lebensmittel bezahlen zu können.

Wie lange sie noch ihren Alltag allein stemmen kann, weiß sie nicht. Mittlerweile nimmt Laura S. schon das zweite Medikament gegen ihren Krebs, weil das erste Medikament nicht mehr gegen ihre Tumoren gewirkt hat.

Die größte Angst der jungen Frau ist, was mit ihr passiert, wenn es ihr schlechter geht und sie sich nicht mehr selbst um ihren Alltag kümmern kann. Zu oft hat sie sich in den letzten zwei Jahren im Stich gelassen gefühlt – vom System, dem Staat, einigen Ärzt:innen. Auch der Kontakt zu Freund:innen und zu ihrer Familie sei durch die Krankheit schwieriger geworden. Am meisten Kraft schöpfe sie aus dem Kontakt mit einer anderen jungen Frau, die dieselbe Diagnose hat, wie sie.

Forschung und Vorsorge

Screening für Risikogruppen

Noch wird eine Lungenkrebserkrankung in den meisten Fällen erst sehr spät erkannt. Es gibt noch keine etablierte Vorsorge. Carsten Bokemeyer erklärt, dass es keine Lösung sei, wenn bildgebende Verfahren wie das CT als ganz pauschale Vorsorge eingesetzt würden. „Es würden sich unheimlich viele Befunde in der Lunge finden – zum Beispiel kleine Pünktchen. Es müsste dann in einer Operation Gewebe entnommen werden, um zu sehen, was das ist. Die Gefahr, dass dabei ein Problem auftritt, ist größer als die Wahrscheinlichkeit, dass es sich wirklich um Lungenkrebs handelt.“ Ein solches Screening biete sich daher eher für Risikogruppen wie starke Raucher:innen an. Dies wird auch in Studien aktiv untersucht.

Mögliche Vorsorge

Es sei zwar noch Zukunftsmusik, aber der Mediziner geht davon aus, dass sich einmal Vorsorgeuntersuchungen für Lungenkrebs entwickeln lassen, die erkennen, ob Veränderungen im Blut vorliegen, die für Treibermutationen sprechen.

Forschung an der Lungenclinic

Die Lungenclinic in Großhandsdorf ist an dem internationalen Forschungsprojekt „I3LUNG“ beteiligt. In dem Projekt werden Tumormarker, Substanzen, die bei einer Krebserkrankung vermehrt im Körper anfallen können, von Lungenkrebspatient:innen auf Gemeinsamkeiten und Muster hin erforscht. So wollen die Wissenschaftler:innen mehr über die Tumoren erfahren, um so für alle Patient:innen eine individuell zugeschnittene Behandlung anbieten zu können.

Krebskranke „undercover“

Lisa B. sagt, dass es ihr mittlerweile die meiste Zeit gut gehe – mit ihrer "Luxus-Therapie". Sie müsse nur ihre Tabletten nehmen und regelmäßig zu Kontrollen in die Klinik in Großhansdorf – und nicht wie andere Krebspatient:innen lange Zeit im Krankenhaus verbringen. Sie versuche ihren neuen Platz in der Gesellschaft zu finden, als Krebserkankte "undercover". Dass sie schwer krank ist, weiß nur ihre Familie, enge Freund:innen und ihr Mann. Lisa B. will nicht, dass Menschen sie anders behandeln.

Sie sei froh, dass sie es niemandem erzählen müsse, aber manchmal mache es das auch schwer. Manchmal seien die Alltagssorgen und die Meckerei der anderen für sie nur schwer zu ertragen. "In manchen Momenten würde ich gerne auf alles Geld, alle Konventionen, allen Alltag pfeifen und einfach leben, die Welt entdecken."

Ein Leben nach dem Prinzip Hoffnung

Doch ihr Leben hat sie dem Prinzip Hoffnung verschrieben. Sie arbeitet wieder 20 Stunden in der Woche, hat sich mit ihrem Mann einen Hund gekauft. In ihrer Familie sagen sie nicht Krebs, sie sprechen von ihrer Krankheit. Vor allem ihre Eltern würden sich an den Gedanken klammern, dass die medizinische Forschung schneller ist als Lisas Krebs und ihr das Leben rette. Sie sei da etwas abgeklärter. "Letztlich ist es Schicksal, ob ich im Team Glück oder im Team Pech lande, und so lange lebe, dass neue Medikamente mir noch etliche Jahre bescheren können."

Über ihren Abschied wolle sie noch nicht nachdenken, doch sie mache sich oft Gedanken darüber, wie sie den Menschen in Erinnerung bleiben will. In anderen Momenten sind es Zukunftswünsche, die sie begleiten: Lisa B. sagt zwar, dass der Kinderwunsch im Moment ihre letzte Sorge sei. Gleichzeitig hat sie den Wunsch einmal Mutter zu sein, noch nicht ganz aufgegeben. Lisa B. hat noch Hoffnung: Ihr Krebs wird einmal eine chronische Krankheit sein und nicht ihr Todesurteil.

* Die Nachmanen der beiden Frauen wurden abgekürzt, weil sie sich dazu entschieden haben, ihre Geschichte anonymisiert zu erzählen. Der Redaktion sind die Namen bekannt.

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