Mein liebes Tagebuch

Sie träumen entzückt von Arzneimittelautomaten und Online-Beratung: die zwei Versorgungs- und Arzneimittel-Chefinnen der AOK. Und überhaupt sei die vollversorgende Apotheke von heute ein Auslaufmodell. Ob sie da mal ihre Versicherten gefragt haben? Vom E-Rezept träumen nicht nur viele Verbände und Unternehmen, die mit Modellprojekten auf der Suche nach der besten Lösung sind. Auch die EU-Versender rüsten auf mit frischem Geld und träumen davon, jedes zehnte E-Rezept zu bekommen. Und während sich jetzt auch die SPD mehr Kompetenzen und eine längere Ausbildung für PTA wünscht, träumen wir Apothekers von einer ganz neuen Approbationsordnung mit mehr Klinischer Pharmazie – für unsere neue Zukunft. Eine Traumwoche!

28. Oktober 2019 

Mit dieser Meinungssalve haben Sabine und Sabine von der AOK in dieser Woche den Vogel abgeschossen: Die Versorgungschefin des AOK-Bundesverbands, Sabine Richard, und die Arzneimittelchefin im AOK-Verband, Sabine Beckmann, schwärmen im AOK-Magazin „Gesundheit und Gesellschaft“ von Arzneimittel-Abgabeautomaten mit Online-Beratung und lassen ganz ungeniert ihr Entzücken über den DocMorris-Automaten in Hüffenhardt freien Lauf. Sabine und Sabine wissen: Der Automat „kam gut an“ bei den Bewohnern. Und: Über die Video-Beratung könne man sich mit der „Stammapotheke“ (!) in Heerlen verbinden lassen. Mein liebes Tagebuch, mehr Werbung für den mittlerweile auch von Gerichten verbotenen DocMorris-Automaten geht nicht. Wer solche Krankenkassen als Partner hat, braucht keine Feinde mehr. Damit nicht genug. Die beiden Versorgungs- und Arzneimittelchefinnen der AOK scheinen unersättlich zu sein, wenn es darum geht, der Apotheke von heute den Garaus zu machen. Ihre Meinung: „Es sollte auch weiterhin persönliche pharmazeutische Angebote geben“ (wie fürsorglich von den beiden, aber jetzt kommt’s), „die aber nur mit deutlicher struktureller Flexibilisierung der Anforderungen an eine Apotheke in der Fläche erhalten werden können. Dies ist mit dem Standardmodell einer vollversorgenden Apotheke auf Dauer nicht leistbar.“ Im Klartext, mein liebes Tagebuch: Das Standardmodell einer vollversorgenden Apotheke, wie wir sie heute haben, ist nach AOK-Meinung ein Auslaufmodell. Man sollte mal gedanklich durchspielen, was es für die Versicherten, für die Patienten bedeuten würde, wenn diese Meinung real werden würde: weg von der vollversorgenden, persönlich beratenden Apotheke, hin zu einer Arzneimittelversorgung über Automaten, Versendern und Online-Beratung, wie es sich die AOK erträumt. Ich habe da meine Zweifel, ob das bei den Menschen „gut ankommt“. Und ich habe auch meine Zweifel, ob man letztlich mit dieser AOK-Pharmazie unterm Strich zu nennenswerten Einsparungen käme. Auch Automaten funktionieren nicht immer, müssen bestückt, müssen gewartet werden. Und die Einrichtung telepharmazeutischer Call-Center mit Heerscharen von Fachkräften gibt’s auch nicht zum Nulltarif. Nun ja, Sabine und Sabine werden von ihrem Arbeitgeber dafür bezahlt, solche Ideen rauszuhauen. Die Versicherten, die Menschen erreicht das nicht – die wollen eine menschliche Pharmazie.

 

Als Jens Dobbert, Präsident der Landesapothekerkammer Brandenburg, vor ein paar Jahren mal den Wunsch an die Politik herantrug, sein Bundesland bräuchte doch auch endlich einen Studiengang in Pharmazie, wurde seine Idee von vielen Seiten belächelt: Ist ja nett, so etwas zu wünschen. Große Chancen gab man dieser Idee nicht, schon gar nicht in der heutigen Zeit, schon gar nicht für das Fach Pharmazie. Wie sich das Blatt wenden kann, mein liebes Tagebuch! Mit der neuen Kenia-Koalition aus SPD, CDU und Grünen in Brandenburg könnte sich in Richtung Studiengang in Pharmazie etwas tun. Immerhin ist im brandenburgischen Koalitionsvertrag ein Passus enthalten, wonach die Einrichtung eines Pharmazie-Studienganges „geprüft“ werden soll. Mein liebes Tagebuch, wir wissen ja, wie es so mit Koalitionsverträgen und Prüfaufträgen in der Politik ist, aber immerhin, man darf es als Teilerfolg werten. Vielleicht wird daraus tatsächlich mehr als nur nette Wunschgedanken. Brandenburg könnte durchaus ein Pharmazeutisches Institut gut gebrauchen. Diese Geschichte zeigt auch, wie wichtig es ist, hartnäckig zu bleiben. Und ein anderer politischer Wind kann viel bewirken.

 

Das E-Rezept nimmt Fahrt auf. Mittlerweile gibt es schon mehrere Modellprojekte, die das E-Rezept und den Umgang damit testen wollen. Die jüngste Ankündigung für ein Pilotprojekt zum E-Rezept kommt aus Schleswig-Holstein: Wie Verbandschef Peter Froese berichtet, soll dort unter dem Titel „Telepakt Schleswig-Holstein“ ein anspruchsvolles Konzept zum Testen des E-Rezepts an den Start gehen. Und noch eine spannenden Sache: Es gibt berechtigten Grund zur Annahme, dass der Apothekerverband Schleswig-Holstein Geld vom Innovationsfonds des G-BA bekommt, um eine neue Versorgungsidee zu testen. Bei dieser Idee geht es um Sensordaten von Patienten, die mit Hilfe der Apotheken erfasst und in die Versorgung eingebracht werden sollen. Dafür müssten die Apotheken Patientendossiers anlegen. Mein liebes Tagebuch, so sehen zukunftsgerichtete Ideen aus, die uns Apothekers in Sachen Digitalisierung weiterbringen. Dank an den schleswig-holsteinischen Apothekerverband für sein Engagement! Zu den neuen Freiheiten beim Botendienst merkte Froese an, die Apotheker sollten die Möglichkeiten zur telepharmazeutischen Beratung nutzen, man solle sich aber vor Fremdanbietern hüten. Und er ließ durchblicken, da der Botendienst nun eine Regelversorgung sei, liege es nahe, dass die GKV ihn über einen Aufschlag finanziere. Klingt gut, aber da dürfte noch ein bisschen Arbeit vor uns liegen.  

 

Wir sollten sie in der Tat im Blick behalten: die Verschiebungen, die durch das Apotheken-Stärkungsgesetz und durch die PTA-Reform auf uns zukommen könnten, und die Veränderungen durch Aktivitäten der großen EU-Versender. ABDA-Jurist Lutz Tisch wies auf der Mitgliederversammlung des Apothekerverbands Brandenburg deutlich darauf hin, was hier in Zukunft abgehen könnte. Durch die neuen Möglichkeiten beim Botendienst (telepharmazeutische Beratung) und durch mögliche neue Kompetenzen für die PTA könnte dieser Assistenzberuf künftig ohne Aufsicht Rezepte entgegennehmen und abzeichnen – auch im Botendienst. Außerdem könnte es mit der Zulassung automatisierter Ausgabestationen eine neue Abgabeform à la Hüffenhardt mit lediglich telefonischer Beratung geben. Patienten müssten weder eine Apotheke aufsuchen noch kämen sie unmittelbar mit pharmazeutischem Personal in Kontakt. Tisch machte auch auf die Multi-Channel-Konzepte der großen EU-Versender aufmerksam. Die Schweizer Zur Rose-Gruppe (mit ihrer Tochter DocMorris) beispielsweise will sich nicht auf den Versand allein beschränken. Dieser Konzern will Präsenzapotheken mit einbeziehen, die im Auftrag des Versenders Arzneimittel ausliefern. Mein liebes Tagebuch, die Apotheke vor Ort als Zusteller für den Versandauftrag aus Holland – ist das nicht eine granatenmäßig obercoole epische Vorstellung? Der Zur Rose-Chef Oberhänsli denkt aber noch weiter: Er träumt von Prescription-Corners in Supermärkten – das ist praktisch so was wie die Wursttheke für Rx-Arzneimittel im Supermarkt (in der Schweiz gibt’s bereits Modellversuche in Migros-Märkten). Für den ABDA-Juristen ist es klar: „Es ist eine spannende Zeit mit unglaublichen Herausforderungen“. Die ABDA habe sich viel Mühe gegeben, um Verbesserungen zu erreichen. Aber ab einem bestimmten Punkt würden solche Gesetzgebungsverfahren unkontrollierbar, so der ABDA-Jurist, wenn sich interessierte Gruppen in den Diskussionsprozess einbrächten. Das Fazit von Tisch: „Da wartet noch sehr sehr viel Arbeit.“ Stimmt, mein liebes Tagebuch, da hilft nur eins: Optimismus ist Pflicht.

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