Aus drei Gründen sind in Deutschland rund 300 Medikamente knapp
Apotheken und Krankenkassen klagen derzeit über Lieferengpässe. Rund 300 Medikamente sind derzeit knapp, darunter Blutdrucksenker, Fiebersäfte und Krebstherapiemittel. Wir erklären, was dahinter steckt – und wie sich das Problem lösen ließe.
„Das ist gerade nicht lieferbar“ – diesen Satz hören Patientinnen und Patienten in der Apotheke momentan immer wieder, wenn sie mit ihrem Rezept dort stehen. Rund 300 Arzneimittel sind derzeit in Deutschland knapp.
Darunter befinden sich momentan
- Antibiotika
- Asthmasprays
- bestimmte Augentropfen
- einige Insuline
- Arzneimittel zur Senkung des Blutzuckerspiegels
- Ibuprofen- und Paracetamol-Säfte und -Zäpfchen für Kinder
- Blutdruckmittel
- Neuroleptika und
- viele Krebstherapiemittel.
Wenn Arzneimittel knapp sind, stehen sie in Deutschland auf der Liste des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Allerdings ist diese keineswegs vollständig. Zudem sind nur verschreibungspflichtige Medikamente gelistet, die als besonders versorgungsrelevant gelten.
Daniela Hänel, Apothekerin und Vorsitzende der Freien Apothekerschaft bestätigte auf Nachfrage von FOCUS online: „Arzneimittel, die es auf die BfArM-Liste ‚schaffen, die also nicht verfügbar sind, sind nur die Spitze des Eisbergs, oder Wirkstoffe, bei denen die Apotheke, trotz Bemühungen, keine Ware oder Alternativen bieten kann.“ Ein Beispiel sei die monatelange Nichtlieferfähigkeit von Arzneimitteln mit dem Wirkstoff Tamoxifen. „Tausende Frauen konnten ihre Behandlung gegen Brustkrebs nicht wie vorgeschrieben fortsetzen.“
Helmut Renz, Chefapotheker des Universitätsklinikums rechts der Isar, berichtet in einer Pressemitteilung ebenfalls davon, dass es Arzneimittel aller Indikationsgruppen betrifft. Gerade im Krankenhaus ist die Situation brisant, weil er mit seinem Team die Versorgung von Patientinnen und Patienten auch mit lebenswichtigen Arzneien sicherstellen muss.
- Mehr zum Thema lesen Sie hier: Sie haben Angst, dass Ihr Medikament ausgeht? Was Sie wissen müssen
Warum werden Medikamente knapp?
In der Liste des BfArM findet sich in der Spalte „Art des Grundes“ recht unkonkret entweder „Produktionsproblem“ oder meist „Sonstige“. Etwas genauere Gründe nennen Renz und Hänel.
User-Aufruf: Sind auch Sie betroffen?
Melden Sie sich bei uns, wenn Sie auch von den Lieferengpässen betroffen sind. Schreiben Sie uns, um welche Medikamente es sich handelt und wie in den Apotheken und Praxen damit umgegangen wird. Wie geht es Ihnen damit? Fühlen Sie sich ausreichend informiert? Ihre Erfahrungen können Sie senden an [email protected].
1. Wir sind abhängig von anderen Ländern
Gründe für die Knappheit sind unter anderem die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg. Denn beide Krisen zeigen, wie stark abhängig wir von anderen Ländern sind. Renz erläutert: „Lieferengpässe für Medikamente gab es schon davor, sie sind in der Corona-Pandemie aber sehr deutlich geworden. Das begleitet die Apotheken schon lange und ist für uns eine große Belastung. Man steht fast jeden Tag vor neuen Überraschungen, was gerade nicht oder nur eingeschränkt verfügbar ist .“
Zur Nichtverfügbarkeit von Arzneimitteln führen Kollegin Hänel zufolge
- abbrechende Lieferketten, verursacht durch Rohstoffprobleme,
- Preissteigerungen der Rohstoffe und/oder Verpackungsmaterialien oder
- Transportprobleme aufgrund Verschiffung aus Fernost, vor allem aus China und Indien.
Die Wirkstoffe werden heutzutage überwiegend in Fernost, vor allem in China und Indien, hergestellt. Wenn dort wegen Corona Fabriken geschlossen werden oder Frachter die Häfen nicht mehr anlaufen dürfen, fehlen am Ende selbst diejenigen fertigen Arzneimittel in den Regalen der hiesigen Apotheken, die in Europa hergestellt werden. Manchmal können auch Lieferungen wegen Verunreinigungen nicht verwendet werden, erklärt auch Hans-Peter Hubmann, der Vizepräsident des Deutschen Apothekerverbandes.
2. Bei den Herstellern gilt das „just in time“-Motto
Dazu kommt: „Da die Hersteller auch keine Lagerhaltung betreiben, aufgrund von Kostenminimierung und dem Motto ‚just in time‘, können Versorgungsengpässe nicht mehr aufgefangen werden“, erläutert Hänel.
3. Pharma-Firmen drosseln ihre Produktionsmengen
Verschärft habe laut Hänel die seit Jahren immer wieder kritische Situation ein weiterer Faktor: Während der Pandemie, im Lockdown, sind die Arzneimittelab- und umsätze stark eingebrochen. Durch den fehlenden Kontakt seien die Menschen weniger krank gewesen, sondern eher gesund geblieben. Die Pharmaindustrie habe daraufhin ihre Produktion gedrosselt.
Denn an den Absätzen des vorherigen Jahres bemessen sie die Produktionsmenge und bestellen entsprechend die Rohstoffe. „Deshalb können viele große Pharmahersteller nicht mit einem Mal die Produktion verdoppeln oder verdreifachen, weil der erhöhte Bedarf plötzlich da ist“, sagt die Apothekerin. „Zusätzlich kommen die gesteigerten Energie- und Transportkosten hinzu.“
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Was würde gegen die Lieferengpässe helfen?
Eine nationale Reserve: Im Zuge der knappen Arzneimittel fordern manche eine „nationalen Reserve“ für diese. Insbesondere für Antibiotika hält Hänel das für sinnvoll. „Außerdem sollten die Hersteller eine gewisse Reserve vorhalten und rechtzeitig einen Engpass verpflichtend melden müssen“, schlägt die Apothekerin vor.
Nationale Lieferketten stärken: Besonders problematisch ist laut Experten aber unsere Abhängigkeit von anderen Ländern. Im Mai zeigte eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) und des Healthcare Supply Chain Instituts im Auftrag des vfa, dass die USA und Europa stark von asiatischen Wirkstoffherstellern abhängig sind. 68 Prozent der Produktionsorte von für Europa bestimmte Wirkstoffe lägen mittlerweile im asiatischen Raum.
Die Studienautoren der vfa empfehlen demnach eine Kombination verschiedener Maßnahmen, um die nationalen Lieferketten im Bereich der Medikamentenherstellung systematisch zu stärken:
- Versorgungsbereiche unterscheiden: Generische Produktion ist anders instabil als Hightech-Medizin
- Die gesamte Liefer- und Wertschöpfungskette inklusive Dienstleistungen, Verpackungsmaterialien und Produktionstechnik betrachten, nicht nur die Wirkstoffproduktion
- Datenlage verbessern: Neben dem Einsatz von Big Data und KI bei der Organisation von Lieferketten kommt vor allem der Qualität der Daten von Überwachungsbehörden eine zunehmende Bedeutung zu
- Reserven „versorgungsrelevanter Wirkstoffe“ aufbauen: Dabei ist eine klare und enge Definition der Wirkstoffe essenziell, um kostenintensive und ineffiziente Überkapazitäten zu vermeiden
- innovative Produktionen am Standort Deutschland/Europa ausbauen
Was müssen Betroffene wissen?
Sind bestimmte Arzneimittel nicht lieferbar, erläutert Christian Splett, stellvertretender Pressesprecher der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA), dass in den Apotheken alternative Arzneimittel anderer Hersteller zur Verfügung stehen. Die Apotheken könnten beim Einlösen des Rezeptes prüfen, ob ein anderes Präparat, das verfügbar ist, für einen Austausch in Frage kommt. Die Grundlage hierfür sei allerdings die „ Sars-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung “. Sie gebe den Apotheken mehr Spielraum, wirkstoffgleiche Austauschmedikamente auszugeben.
Exemplarisch für den Klinikalltag berichtet Apotheker Renz, dass sie die Versorgung des Klinikums bisher immer sicherstellen konnten.
Möglich ist es, zu einem
- anderen Hersteller oder
- einer anderen Stärke eines Präparats zu wechseln – oder sogar
- auf einen anderen Wirkstoff auszuweichen.
Für Betroffene ist das in vielen Fällen ärgerlich, für die Apotheken oft mit Mehraufwand verbunden. Aber es bedeutet auch: Derzeit gibt es noch keinen Grund zur Panik.
Was ist mit lebenswichtigen Medikamenten?
Wichtig zu wissen: Momentan existieren für die am häufigsten in Deutschland verordneten
- Herzmedikamente (ACE-Hemmer, Blutdrucksenker, Betablocker)
- Schilddrüsenpräparate und
- Diabetesarzneimittel keine Versorgungsengpässe.
Das ist grundsätzlich von Lieferengpässen zu unterscheiden. Denn in vielen Fällen können Medikamente durch andere mit gleichem Wirkstoff ersetzt werden.
Aktuell liegt für keinen der Wirkstoffe in den Top-10-Medikamenten „eine echte Knappheit im Markt vor“, bestätigt eine Sprecherin der Techniker Krankenkasse. „Das heißt: Für alle Arzneimittel gibt es andere Produkte, die als wirkstoffgleiche Alternative eingesetzt werden.“ Generell weist sie darauf hin, dass eine Bevorratung mit Arzneimitteln zusätzlich die Versorgung in Schieflage bringe.
Das betont auch Martin Scherer, Direktor Institut und Poliklinik für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) im Gespräch mit FOCUS online. „Bei den lebenswichtigen Medikamenten sehen wir aktuell noch keine Probleme“, sagt Scherer. „Patientinnen und Patienten sind nicht unterversorgt.“ Hamstern dagegen wäre gegen jedes Solidarprinzip.
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