Stupide Feindbilder spalten Gesellschaft: Fett und Zucker sichern unser Überleben
Christoph Klotter hält wenig davon, Fett und Zucker zu verteufeln. Wie solche Feindbilder zur Spaltung der Gesellschaft beitragen und warum die Menschen ohne Zucker und Fett längst ausgestorben wären, erklärte der Ernährungspsychologe im Gespräch mit FOCUS Online.
Süß, klebrig, energiereich: Zucker wird seit einigen Jahren als Ernährungssünde verteufelt. Zu Unrecht, findet Christoph Klotter. Der Gesundheits- und Ernährungspsychologe forscht und lehrt an der Universität Fulda. Von einem „Feindbild Zucker“ hält er wenig, ebenso wenig vom schon länger bestehenden „Feindbild Fett“. Fett und Zucker sind laut dem Ernährungspsychologen alles andere als „böse Lebensmittel“ – auch wenn sie oft als solche dargestellt werden.
Fett und Zucker sind überlebenswichtig für die Menschheit
„Ohne Zucker hätte die Menschheit überhaupt nicht überlebt“, sagte Klotter im Gespräch mit FOCUS Online. Möglichst fett und süß, also möglichst energetisch: Hätten sich die Menschen vor Millionen von Jahren nicht nach dieser Devise ernährt, sondern nach Diäten, wie sie etwa die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfehle, „dann wären die Menschen längst ausgestorben“, so Klotter.
Wie konnte das „Feindbild Zucker“ dennoch entstehen? Dafür hat Christoph Klotter eine Erklärung. 2011 habe sich die DGE noch auf Studien berufen, wonach Zucker eben nicht krank mache. 2017 habe sich die Gesellschaft jedoch den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO angeschlossen: weniger Zucker konsumieren.
Wissenschaftliche Grundlage für die Empfehlungen fehlt
Eine wissenschaftlich belegbare Grundlage für die Empfehlungen gebe es nicht, sagt der Ernährungspsychologe. Jahrzehntelang sei Fett der Feind gewesen, sagt Klotter. Vor drei Jahren dann hätten Studien ergeben, dass mehr Fett gesundheitsfördernd sei: „Fett als Todfeind wurde fallen gelassen. Man musste sich einen neuen Feind ausdenken.“
Also habe der Zucker herhalten müssen. „Aber diese Dämonisierung findet statt, ohne dass die Realität dabei berücksichtigt wird“, so Klotter. Damit meint er nicht nur die fehlende empirische Absicherung für die Annahme, dass Zucker gesundheitsschädlich sei. Es werde auch vergessen, dass die Lebenserwartung des Menschen stetig steige – und das obwohl gleichzeitig die Verfügbarkeit und somit auch der Konsum von Fett und Zucker stetig zugenommen habe. „Seit etwa 200 Jahren leben wir hier im Schlaraffenland“, sagt der Wissenschaftler.
Christoph Klotter: "Wir leben in einer Überflussgesellschaft"
Der Mensch, so Klotter, sei genetisch darauf programmiert, so viel wie möglich zu essen. „Wir leben aber heute in einer Überflussgesellschaft, in der alles immer sofort verfügbar ist, auch energiedichte Lebensmittel, die viel Zucker und Fett enthalten.“
Gleichzeitig sei unsere Gesellschaft von einem Schlankheitsideal geprägt, das sich immer mehr radikalisiere. Und wer diesem Ideal nicht entspreche, suche die Schuld eben woanders. „Wir suchen immer einen Bösen, den wir für unser Handeln verantwortlich machen können. Das ist sehr entlastend und unheimlich praktisch“, erklärt Klotter, wie Fett und Zucker zu Ernährungsfeindbildern werden konnten.
Die Theorie des Ernährungspsychologen greift tiefer
Doch Klotters Theorie zu Zucker und Fett als ungerechtfertigte Feindbilder greift tiefer. Sie geht bis hin zu seiner Annahme, dass Ernährung heutzutage als Ersatzreligion herhalten muss – und dass die Debatte um „richtige“ Ernährung ein „heimlicher Klassen- und Geschlechterkampf“ sei.
Um das zu erklären, muss der Psychologe etwas weiter ausholen. Unserer Zivilisation gründe sich auf einem Wertegefüge, in dem zwei Tugenden eine zentrale Rolle spielten: Vernunft und Mäßigung beziehungsweise Disziplin. „Deshalb heißt der Todfeind in unserer Zivilisation Adipositas“, sagt Klotter.
Adipositas verkörpere die Verletzung einer zentralen Tugend: der Disziplin. Adipöse, also stark übergewichtige Menschen vorverurteile man schnell nach dem Motto: „Wer adipös ist, kann seinen inneren Schweinehund nicht überwinden“, so Klotter. „Der Hauptfeind ist also Adipositas. Und was führt zu Adipositas?“ fragt er, und gibt die landläufige Antwort gleich selbst: „Fett und Zucker. Das Feindbild ist somit perfektioniert.“
Adipöse werden gesellschaftlich diskriminiert
Eine Folge davon ist laut Klotter, dass Adipöse vom Rest der Gesellschaft nicht nur ausgegrenzt werden. „Sie denken auch, dass sie zurecht diskriminiert werden“, ist der Psychologe überzeugt.
Und wieder beruft er sich auf den Stand der Wissenschaft: Dass adipöse Menschen eine geringere Lebenserwartung hätten als normalgewichtige Menschen, sei empirisch nicht belegt.
Um dem schlechten Ruf von Zucker und Fett entgegenzuwirken, rät Christoph Klotter zu mehr Gelassenheit – und zu mehr Mut zur Sünde: „Es hilft, die Sünde zu akzeptieren. Alles, was rigide ist beim Essen, schlägt ins Gegenteil um und mündet in impulsive Durchbrüche.“
Die "richtige" Ernährung gibt es nicht
Die „richtige Ernährung" gebe es ohnehin nicht. Vielmehr drohe ein wichtiger Bestandteil des Essens verlorenzugehen, „wenn wir immer nur auf Kalorien achten“: der Genuss. Wer nicht genieße, neige dazu, mehr zu essen. Noch eine Warnung spricht der Ernährungspsychologe in diesem Zusammenhang aus: „Essen nebenbei ist Gift!“, sagt Klotter. „Wenn ich vor dem Fernseher Chips esse, bin ich psychisch nicht satt – und ich brauche eine zweite Tüte.“ Ganz anders sehe es aus, wenn man gemeinsam mit Freunden oder der Familie esse – und physisch wie psychisch gesättigt werde.
Die mitunter polarisierende Debatte um „richtige“ oder „falsche“ Ernährung beobachtet Christoph Klotter mit Besorgnis: „Diese Polarisierung ist sehr bedenklich. Sie betrifft ja nicht nur die Diskussion ums Essen.“ Unsere Gesellschaft insgesamt drohe durch zunehmende Polarisierung zu zerfallen. Klotters Plädoyer lautet daher: „Wir sollten um uns mehr gegenseitiges Verständnis bemühen.“
Zucker – und auch Fleisch – zu Feindbildern zu erklären, helfe dabei nicht. Im Gegenteil: „Wer besser gestellt ist in unserer Gesellschaft, denkt heute, er müsse Bio-Milch kaufen und er müsse den Fleisch essenden Proll verachten“, ist Klotter überzeugt. Der Großteil jener etwa, die sich vegetarisch oder vegan ernährten, sei „jung, weiblich und gebildet“. Dadurch entstehe ein Machtkampf "zwischen jungen Frauen und alten Prolls" oder "zwischen Gebildeten und Hartz-IV-Empfängern". Der Konsum von Fleisch und Süßem sei in den Augen der gesellschaftlich besser Gestellten ein Merkmal der sozial schlechter Gestellten: „Süßes wird verdammt, und wer heute noch Süßigkeiten isst, wird in unserer Gesellschaft ganz unten verortet.“
Mehr zum Thema Ernährung
Wie Ernährung so wichtig wurde
Dass Ernährung überhaupt zu einem so zentralen Thema in unserer Gesellschaft werden konnte, erklärt der Ernährungspsychologe erneut mit dem Wertegefüge unserer Zivilisation: Dieses Tugendgefüge der vernünftigen, disziplinierten Bürgerinnen und Bürger werde seit mehr als 2000 Jahren aufrechterhalten, sagt Klotter „jahrhundertelang von den Kirchen, aber die können das heute nicht mehr“.
Klotter: "Essen taugt nicht zur Erlösung"
Quelle: Den ganzen Artikel lesen