Kinderärztin schreit nach Hilfe: „Wir können nicht mehr leiden“
Laut Ifo und KfW ist Deutschland vom wachsendem Fachkräftemangel betroffen: Vier von zehn Unternehmen sehen ihre Geschäftstätigkeit beeinträchtigt. Wie sich dies auf Gesundheitssystem, Ärzte und Familien auswirkt zeigt der Arbeitsalltag einer Frankfurter Kinderärztin.
Der historische Fachkräftemangel in Deutschland trifft auch Arztpraxen immer härter. Beate Seger-Fritz arbeitet als Kinderärztin in Frankfurt und versorgt dort mittlerweile rund 1.500 Kinder im Quartal. Zu Hilfe stehen ihr für diese Herkulesaufgabe sieben Angestellte, die sie sich rechnerisch eigentlich nicht leisten kann. Die „Bild“ berichtete über den Arbeitsalltag einer 59-jährigen, leidenschaftlichen Ärztin, deren Herausforderungen Symptom eines kränkelnden Gesundheitssystems sind.
Ärztin muss Weiterbildung von Mitarbeiterin selber bezahlen
„Wir Ärzte sind wirklich leidensfähig“, sagt Seger-Fritz, in deren Praxis eine Petition für den Erhalt von Haus- und Facharztpraxen in Deutschland ausliegt. „Aber jetzt hat das Leid ein Ende. Wir können nicht mehr leiden.“
Diese Sätze sind gut untermauert. Nicht nur, weil es in Deutschland kaum einen längeren Ausbildungsweg gibt als jenen, den Ärzte wie sie beschreiten mussten. Auch das medizinische Fachpersonal auszubilden, ohne welches keine Arztpraxis und kein Krankenhaus funktionieren kann, erfordert Einsatz, Mittel und Zeit. Doch für beide Aufgaben gibt es in Seger-Fritz‘ Erfahrung immer weniger Geld.
Die Weiterbildung einer ihrer angestellten Fachärztinnen bezahle sie sogar aus eigener Tasche, weil das Land Hessen nicht ausreichend Weiterbildungsstellen für Ärztinnen fördere. 3.600 Euro koste sie die halbe Stelle monatlich. Ihre Personalkosten belaufen sich mittlerweile auf 22.000 Euro im Monat.
Individuellen Arztpraxen droht das Aussterben
„Entweder bekomme ich im Oktober doch noch irgendwie eine Förderung für die junge Kollegin oder sie muss gehen.“ Die Mängel des aktuellen Systems ärgern Seger-Fitz so sehr, dass sie ihren Argwohn erregen. „Offensichtlich ist es Ziel der Politik, die Einzelpraxis zu beerdigen, die individuelle Versorgung durch Ärzte nicht mehr zu erlauben.“
Düster prognostiziert sie, Praxen wie ihre gingen bald in von großen Privatkonzernen geführten medizinischen Versorgungszentren auf – mit stets wechselnd angestellten Ärzten und Praxispersonal. Viele dieser Ärzte kämen dann womöglich aus dem Ausland, „weil Ausbildung von Ärzten hierzulande ja zu teuer ist.“
„Zwei Minuten pro Patient. Ich will so keine Medizin machen“
Was wie ein Klagelied anmutet, wird verständlicher, wenn man Seger-Fritz‘ Arbeitsalltag beobachtet und die Entscheidungen kennt, die sie im Leben getroffen hat. Während Studienkolleginnen lukrativere Fächer wählten, ging Seger-Fritz in die Kinderheilkunde, ihrer Leidenschaft für Kinder wegen.
2021 erhielt ein Kinderarzt bei einer Patientenzahl von etwas unter 1.000 pro Quartal etwa 74 Euro pro Patient – und das unabhängig von Anzahl und Art der Untersuchungen. Aber kindliche Patienten benötigen oft mehrere Folgeuntersuchungen, fürchten sich vor Behandlungen und müssen Erklärungen mehrfach hören. Diese Mehrarbeit verschreckt auch Medizinische Fachangestellte. „Das Fach der Kinderheilkunde ist sehr personalintensiv. Medizinische Fachangestellte entscheiden sich oft für weniger anstrengende und lukrativere Fachrichtungen bzw. Einrichtungen“, sagt Seger-Fritz.
Seger-Fritz selbst betreut gar mehr als 1.000 Patienten pro Quartal. Die schlechte Vergütung führe zu einem Mangel an Kinderärzten und dieser Mangel zwinge sie derzeit dazu, rund 1.500 Patienten im Quartal zu betreuen.
An einem besonders schlechten Tag habe sie einmal 134 Patienten an einem Tag betreut. „Macht zwei Minuten pro Patient“, sagt sie. „Ich will so keine Medizin machen.“ Praktisch führe dieser Missstand zudem dazu, dass Kinderarztpraxen wie ihre das notwendige Personal meist nicht anstellen könnten, was wiederum die Behandlungsqualität senke. „Die Praxen sind für die Eltern telefonisch nicht erreichbar, Untersuchungen können nicht durchgeführt werden.“
Gesamtgesellschaftliches Problem
Die schwierige finanzielle Lage, die mangelnden Ausbildungsplätze, das mangelnde Personal und die unmenschlichen Arbeitszeiten seien aber erst ein Teil der Misere. Der Fachkräftemangel benachbarter Professionen wirke sich direkt auf ihre Arbeit aus. „Die Lücken in der Versorgung der frisch gebackenen Eltern durch fehlende Hebammen füllen wir Kinderärzte. Es gibt nur wenige Spezialisten für die einzelnen Fachrichtungen für Kinder.“
Zunehmend sähe sie sich außerdem entwicklungsgestörten, psychisch kranken Kindern gegenübergestellt, die eine noch intensivere Betreuung notwendig machten. Eltern seien heutzutage immer weniger auf das Elternsein vorbereitet, die Kinder u. a. durch fehlende Kindergartenplätze unzureichend gefördert.
Auch bliebe der demografische Wandel nicht unbemerkt, sagt Seger-Fritz, deren Praxis in einem sozial schwachen Gebiet Frankfurts situiert ist. „Ich versorge eine hohe Zahl bildungsferner, nicht oder unzureichend Deutsch sprechender Familien. Das erhöht den Zeitaufwand weiter.“ Privatpatienten, die die Praxis querfinanzieren könnten, habe sie kaum.
Wertschätzung für Ärzte kann nicht alles sein
Trotz aller Schwierigkeiten will Seger-Fritz weitermachen. „Kinder sind authentisch“, sagt sie, „ehrlich und liebenswert. Sie haben es verdient, die bestmögliche Behandlung und Betreuung zu bekommen. Eltern und Kinder bringen mir die Wertschätzung entgegen, die mich erfüllt und mich die heutige Situation gerade noch ertragen lässt.“
Fast zwangsläufig fügt sie dann hinzu: „Aber von Wertschätzung allein kann ich meine Kinder nicht versorgen, mein Leben nicht finanzieren, geschweige denn glücklich und sorgenfreier in meine Zukunft schauen.“
Ärztemangel in Deutschland
Landesweit fehlten im Jahr 2021 etwa 4.100 Hausärzte. In Baden-Württemberg allein waren 765 Stellen unbesetzt. Nach Fachrichtungen geordnet fehlten vor allem Neurologen (170 unbesetzte Sitze) und Kinderärzte (137 unbesetzte Sitze). Die meisten freien Stellen konzentrierten sich unabhängig von der Fachrichtung im ländlichen Raum, wo relativer Ärztemangel und hohe Arbeitsbelastung eine Teufelsspirale bilden.
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