„Tönnies-Ausbruch schlimmer als Heinsberg“: Virologe warnt vor Corona-Rückfall
Der Coronavirus-Ausbruch beim Fleischkonzern Tönnies im Kreis Gütersloh hat große Ausmaße angenommen. Mehr als 1500 Menschen haben sich infiziert. Virologe Friedemann Weber sagt: Damit es bei dem Ausbruch bei einem lokalen Geschehen bleibe, müssen nun massive Maßnahmen her.
Mehr als 1500 Menschen haben sich bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück mit dem Coronavirus infiziert (Stand: 23.6., 8 Uhr). Die meisten Beschäftigten des Fleischkonzerns im Kreis Gütersloh (NRW) wurden bereits getestet, von 6650 Menschen wurden Proben genommen. Im Krankenhaus mussten 21 Covid-19-Patienten stationär behandelt werden, sechs davon auf der Intensivstation. Zwei Infizierte werden beatmet (Stand 21.6.).
Der Ausbruch in Gütersloh ist nicht der einzige lokale Corona-Brandherd. Zuvor wurden bereits Fälle, unter anderem in Göttingen und Berlin-Neukölln bekannt. Doch der Fall in NRW hat mit der hohen Zahl an Infizierten eine neue Dimension erreicht. Ministerpräsident hat nun einen Lockdown angeordnet.
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"Das ist eine andere Größenordnung"
„Der aktuelle Ausbruch um das Unternehmen Tönnies herum ist besorgniserregender als der in Heinsberg Anfang des Jahres“, sagt Friedemann Weber, Direktor des Instituts für Virologie an der Universität Gießen, über die aktuelle Lage im Kreis Gütersloh. Denn die Voraussetzungen der Virusübertragung seien durch die Bedingungen in einer Fleischfabrik noch besser als die einer Karnevalssitzung. „Dort haben wir ein Geschehen, bei dem das Virus vielfach effizient übertragen worden ist, nicht nur an einem Tag, sondern an vielen. Das ist eine andere Größenordnung.“
Auch scheinen die Arbeitsbedingungen in Schlachthöfen nicht gut mit den derzeit notwendigen Hygienemaßnahmen vereinbar zu sein, wie Isabella Eckerle, Professorin an der Universität Genf und Expertin für Infektionskrankheiten erklärt. Unter anderem könnte körperliche Anstrengung zu einer höheren Virusausscheidung führen und die kalte, feuchte Luft in den Anlagen eine Übertragung des Virus begünstigen. Die hohe Zahl der Infektionsfälle bei den Mitarbeitern der Firma Tönnies weise auf „ein unbemerktes, schon länger vor sich gehendes ‚Superspreading Event‘ in diesem Betrieb hin“, erklärt Eckerle.
Davon geht auch Friedemann Weber aus. Der Virologe schätzt, dass es neben den bekannten Fällen eine Dunkelziffer von Infizierten in der Gegend gibt. „Wenn man jetzt nicht massiv dagegen vorgeht, wird es kein lokales Geschehen bleiben“, sagt Weber. „Man muss alles tun, um das jetzt einzugrenzen.“
Denn auch von lokalen Hotspots gehe eine Gefahr aus. „Selbst ein kleiner lokaler Ausbruch kann ganz schnell ein großer werden, wenn man nicht sofort etwas tut.“ Deshalb führt aus Webers Sicht kein Weg an einem erneuten Lockdown in betroffenen Gebieten vorbei. Zudem seien weitreichende Tests notwendig, um Infektionsketten zurückzuverfolgen und zu unterbrechen.
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„Wahrscheinlich wird der R-Wert noch weiter ansteigen“
„Je mehr wir wissen und testen, desto größer ist die Chance, dass wir ein solches Geschehen wieder eingrenzen können“, erklärt der Virologe. Werden die Infektionszahlen allerdings immer größer, wird es auch schwieriger, das Geschehen unter Kontrolle zu halten bzw. zu bringen.
NRW-Ministerpräsident Armin Laschet sprach bisher zwar von einem enormen Pandemierisiko, sagte aber auch, dass Übersprünge auf die Bevölkerung außerhalb der Firma Tönnies gering seien.
Diese Einschätzung teilt der Virologe aus Gießen nicht. Schließlich gebe es immer auch Kontakte nach außen, durch die das Virus weitergetragen werden kann. Weber geht daher davon aus, dass es in der Region weitere Betroffene gibt, die noch nicht in den offiziellen Zahlen auftauchen. „Ob die Zahlen, die wir jetzt im Kreis Gütersloh sehen, schon das Ende der Fahnenstange sind – da bin ich mir nicht so sicher“, sagt der Virologe. „Wahrscheinlich wird der R-Wert noch weiter ansteigen“.
Der hatte sich zuletzt bereits stark erhöht. Er kletterte in den vergangenen Tagen von knapp über 1 auf 2,78 am Sonntag – der höchste Wert seit dem Lockdown.
Reproduktionszahl muss immer im Zusammenhang betrachtet werden
Der R-Wert oder Reproduktionsfaktor gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter im Mittel ansteckt. Liegt die Reproduktionszahl bei mehr als 1, steckt ein Infizierter durchschnittlich mehr als einen anderen Menschen an. Liegt die Rate unter 1, steckt ein Infizierter im Mittel weniger als einen anderen Menschen an. Je niedriger der Wert, desto besser.
Die Reproduktionszahl für den Erreger Sars-CoV-2 liegt dem RKI zufolge im Allgemeinen ohne Gegenmaßnahmen zwischen 2,4 und 3,3. Das heißt, dass ein Infizierter im Mittel mehr als zwei oder sogar mehr als drei weitere Menschen ansteckt – und sich das Virus damit schnell verbreitet.
Ist ein R-Wert um 2,8 herum also Grund zur Sorge? Nicht unbedingt, denn alleine betrachtet ist er nur begrenzt aussagekräftig. In Zeiten, in denen sich wenig Menschen neu infizieren, spiegelt der Wert lokale Ausbrüche wie den im Kreis Gütersloh stark wider.
„Je kleiner die Zahl der geschätzten Neuerkrankungen ist, umso mehr machen sich lokale Entwicklungen bemerkbar“, erläutert der Mathematik-Experte des RKI, Matthias an der Heiden. Da der R-Wert recht kurzfristig erhoben würde, um möglichst nahe am Geschehen dran zu sein, käme es zu Schwankungen von Tag zu Tag.
Generell gilt zudem: Die Reproduktionszahl muss immer im Zusammenhang mit anderen Epidemie-Zahlen betrachtet werden – etwa der absoluten Zahl der täglichen Neuinfektionen. Diese Zahl muss klein genug sein, um Kontaktpersonen effektiv nachverfolgen zu können und Kapazitäten von Intensivbetten nicht zu überlasten.
Geschehen in Gütersloh wird als lokal eingrenzbarer Infektionsherd behandelt
Aber wann ist eine solche Zahl an Neuinfektionen klein genug? Bund und Länder hatten Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen in Regionen beschlossen, in denen es mehr als 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner pro Woche gibt. Diese Zahl wird als Sieben-Tage-Inzidenz bezeichnet.
Die ist im Kreis Gütersloh mittlerweile um ein Vielfaches überschritten. Sie liegt bei 263,7 Infektionen pro 100.000 Einwohnern. Auch im benachbarten Kreis Warendorf geht der Wert nach oben. Dort liegt er nach Angaben des nordrhein-westfälischen Landeszentrum Gesundheit mit Stand 22. Juni, 0 Uhr, bei 41,8.
Bei der Marke von 50 sollten für eine betroffene Region wieder stärkere Einschränkungen in Betracht gezogen werden. Bund und Länder haben allerdings auch vereinbart, dass diese Zahl keine Rolle spielt, wenn es sich um einen lokal eingrenzbaren Infektionsherd handelt. So wird auch der Ausbruch bei Tönnies bisher von der Landesregierung eingestuft. Ministerpräsident Laschet schließt einen generellen Lockdown neben bereits erfolgten Kita- und Schulschließungen zwar in der Region nicht aus. Bislang wurden allerdings noch keine weiteren Schritte in dieser Richtung eingeleitet.
"Was wir jetzt sehen sind auch Events, die schon ein paar Wochen zurückliegen"
Deutschlandweit wurden nach Angaben der Gesundheitsämter der 16 Bundesländer von Montag auf Dienstag 503 Corona-Neuinfektionen verzeichnet. Mittlerweile haben sich 190.862 Menschen in der Bundesrepublik mit dem Virus infiziert, als aktiv infiziert gelten knapp 7800 – Tendenz steigend.
„Die Zahlen werden in nächster Zeit weiter ansteigen“, glaubt Friedemann Weber und führt diese Entwicklung unter anderem auf Geschehen wie in Rheda-Wiedenbrück zurück, aber auch auf Familienfeiern oder Demonstrationen, bei denen Abstands- und Atemschutzregeln nicht eingehalten wurden. „Gütersloh ist in diesen Zahlen noch nicht komplett abgebildet. Was wir jetzt sehen sind auch Events, die schon eine Weile zurückliegen und wo das Infektionsgeschehen erst langsam klar wird.“
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FOCUS Online/Wochit Hat Tönnies gelogen? Schock-Video aus Kantine beweist, dass gegen Regeln verstoßen wurde
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