Noch 26 Tage
Am 16. und 17. April verhandelt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland über sechs Verfassungsbeschwerden gegen Paragraf 217 des Strafgesetzbuchs. Dieser stellt seit Ende 2015 die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung hierzulande unter Strafe. In den Niederlanden ist aktive Sterbehilfe erlaubt.
Im Januar 2018 lernen sich die Fotografin Sandra Hoyn und die 29-jährige Aurelia kennen. Das erste Treffen ist zugleich der Tag, an dem der Abschied beginnt: Die junge Frau wird nur noch 26 Tage leben. Nicht mal ein Monat bleibt, dann wird sie eine giftige Flüssigkeit trinken und sterben. Weil sie es selbst so will. Und weil das geht in den Niederlanden.
Aurelia ist schwer krank. Sie hat Depressionen, leidet an sogenannten dissoziativen Störungen und dem Borderline-Syndrom. Mehrfach hat sie schon versucht, sich das Leben zu nehmen. „In meinem Kopf ist ein Monster, das mich mit hundert Messern sticht“ – so beschreibt sie ihren Zustand.
Jahrelang hat Aurelia gegen ihre Krankheiten gekämpft. Doch keine Behandlung hat ihr geholfen, keine Therapie angeschlagen, ihr Zustand verschlimmerte sich sogar. Die Entscheidung zu sterben, ist der jungen Frau nicht leicht gefallen, doch ihre psychischen Schmerzen sind immer größer geworden. „Ich würde gern leben, aber ich will nicht mehr leiden“, sagt sie. „Das Einzige, woran ich denke, ist: ‚Lass es vorbei sein!'“
Obwohl Sterbehilfe auch für psychisch Kranke in den Niederlanden legal ist, werden nur wenige Fälle im Jahr erlaubt. Mit 21 stellte Aurelia das erste Mal ein Gesuch, sterben zu dürfen, erhielt aber eine negative Antwort. Doch einige Jahre später bescheinigten ihr mehrere unabhängige Ärzte, dass sie austherapiert sei – ihr erneuter Antrag wird akzeptiert. Der Termin, an dem das mobile Sterbehilfe-Team zu ihr kommen soll, wird auf den 26. Januar 2018 festgelegt.
Fotografin Hoyn war im Internet zufällig auf Aurelia aufmerksam geworden, seit ein paar Jahren beschäftigte sie sich mit dem Thema Sterbehilfe. Sie hatte bereits einige Menschen begleitet, die diese in der Schweiz in Anspruch nehmen wollten. Nun schrieb sie Aurelia an, und die sagte sofort zu. Nur wenige Tage später saß die Fotografin im Zug und fuhr los.
„Wir hatten die Abmachung, dass wir das Projekt jederzeit beenden, wenn wir uns nicht mögen oder es Aurelia zu viel wird“, erzählt Hoyn. Doch die beiden verstehen sich sofort, verbringen von nun an jeden Tag miteinander, schlafen sogar in der gleichen Wohnung. In kürzester Zeit entsteht eine starke Bindung zwischen den Frauen. Sie sprechen viel, lachen gemeinsam, weinen, streiten sich.
Aurelia ritzt sich mit Glasscherben in die Haut, drückt Zigaretten auf ihren Armen aus, sprüht sich Deo in ihre Augen. An manchen Tagen will sie sich umbringen, macht es aber nicht, weil sie weiß, dass ihr Termin naht. Hoyn erzählt: „Einmal sagte sie zu mir: ‚Sandra, ich möchte mich jetzt selbst verletzen. Du kannst im Wohnzimmer bleiben oder hinausgehen, wenn du es nicht sehen kannst. Aber hindere mich auf keinen Fall daran.'“ Die Fotografin bleibt.
Im Video: Aurelia will nicht mehr leiden
„Ich wollte ihren Schmerz, ihre Verzweiflung verstehen, was natürlich nur begrenzt möglich ist“, sagt Hoyn. „Niemand kann das wirklich nachempfinden. Doch wenn andere ihre Entscheidung akzeptierten, half ihr das schon.“
Aurelia organisiert ihre Trauerfeier, trifft Freunde, bastelt. Die meiste Zeit verbringt sie aber auf Instagram und Facebook, twittert, postet, macht Videos; sie schreibt einen Blog und gibt Interviews. Ihre Mission in ihren letzten Wochen ist, dass Sterbehilfe für psychisch Kranke in den Niederlanden mehr akzeptiert wird.
„Sie wollte nicht bewirken, dass andere Menschen Suizid begehen“, erklärt Hoyn. „Sie wünschte sich, dass diejenigen, die ihr Leben wirklich wegen des Leidens beenden wollen, die Chance bekommen, selbstbestimmt und unterstützt von einem Arzt zu sterben.“
Und dann ist der 26. Januar da. Ihre Freunde verabschieden sich von Aurelia. Dann geht sie ins Bett, trinkt ihr Medikament, das ihr die Ärzte geben. Sie schläft einfach ein – so wie sie es sich gewünscht hat.
Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Hier finden Sie – auch anonyme – Hilfsangebote in vermeintlich ausweglosen Lebenslagen. Per Telefon, Chat, E-Mail oder im persönlichen Gespräch.
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