Längerer Lockdown trotz sinkender Zahlen? Warum die aktuelle Corona-Lage so verzwickt ist

Die Infektionszahlen sinken – dennoch stehen die Zeichen derzeit auf eine Verlängerung der Corona-Maßnahmen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der Länder beraten heute zu dem weiteren Vorgehen in der Pandemie. Zahlreiche Experten hatten bereits im Vorfeld des Bund-Länder-Gipfels vor vorzeitigen Lockerungen gewarnt und eine Verlängerung der Maßnahmen bis Anfang März gefordert. Im Fokus der Debatte steht vor allem der Umgang mit Schulen und Kitas.

Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) verwies auf den seelischen Druck für Kinder und Jugendliche und sprach sich für eine baldige Öffnung von Schulen und Kitas aus. "Je länger der Lockdown dauert, desto schwieriger wird es", so die Ministerin.

Virus-Varianten


Niemand analysiert mehr Corona-Mutationen als britische Forscher. Sie sagen: "Zur Panik besteht kein Grund"

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnte dagegen davor, die Maßnahmen zu beenden oder teilweise aufzuheben. Es gebe null Spielraum für Lockerungen, "sonst beginnt mit Beginn März die 3. Welle", schrieb Lauterbach auf Twitter. Kitas und Schulen könnten "nur unter größten Sicherheitsvorkehrungen geöffnet werden", und auch nur dann, wenn an anderer Stelle strengere Maßnahmen umgesetzt würden, so seine Einschätzung.

Warum aber sind Lockerungen in der aktuellen Corona-Lage so kritisch? Gleich mehrere Faktoren spielen eine Rolle.

Inzidenz zu hoch

Ein Problem ist nach wie vor die sogenannte Sieben-Tages-Inzidenz, also die Anzahl an Corona-Fällen je 100.000 Einwohner in sieben Tagen. Sie gilt mit als wichtigster Maßstab, um das Infektionsgeschehen im Land zu bewerten. Die Inzidenz liegt nach Angabe des Robert Koch-Instituts (RKI) derzeit bei 68. 

Zwar ist die Inzidenz seit einigen Wochen deutlich zurückgegangen. Noch Ende Dezember hatte der Wert an der 200er-Marke gekratzt. Bereits nach dem letzten Bund-Länder-Gipfel hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel aber klargestellt: Gelockert wird erst, wenn die Inzidenz unter die 50er-Marke fällt.

Doch nach Ansicht einiger Experten ist selbst diese Marke zu hoch gegriffen. Die Initiative "No Covid" spricht sich beispielsweise dafür aus, die Inzidenz unter 10 zu drücken. 

"Es wäre fatal zu hoffen, wir könnten die Maßnahmen mit einer Inzidenz von knapp unter 50 lockern und dabei das Virus im Zaum halten. Die Zahlen würden sofort wieder steigen", hatte die Virologin und "No-Covid"-Befürworterin Melanie Brinkmann kürzlich im Gespräch mit dem "Spiegel" erklärt. So eine Mittelinzidenz bedeute letztlich eine Art Dauer-Lockdown, "aus dem man nur zwischendurch mal kurz auftauchen und nach Luft schnappen kann." Erst ab einer niedrigeren Inzidenz könnten die Gesundheitsämter wieder effektiv Infektionsketten nachverfolgen. "Und wir alle bekämen unser Leben zurück. Zumindest ein Leben, so ähnlich wie im Sommer 2020."

Gefahr durch Mutanten

Neu ist die Gefahr durch ansteckendere Corona-Mutanten. Das RKI veröffentlichte in der vergangenen Woche einen Bericht, wonach in Deutschland bereits alle öffentlich bekannten und besorgniserregenden Varianten nachgewiesen wurden. Die Mutante B.1.1.7, die zuerst in Großbritannien auftrat, fand sich in 5,8 Prozent aller untersuchten Proben. Der Wert dürfte in den vergangenen Tagen noch einmal deutlich gestiegen sein. Es wird derzeit davon ausgegangen, dass B.1.1.7 etwa 30 bis 50 Prozent ansteckender sein könnte als die bisherige Sars-CoV-2-Variante.

Der Virologe Hartmut Hengel sieht bereits in dem B.1.1.7-Anteil von 5,8 Prozent ein "erhebliches Risiko" bei Lockerungen, etwa Schulöffnungen. "Unter diesen Voraussetzungen könnte sich innerhalb weniger Wochen eine dritte Infektionswelle wie in Großbritannien und Dänemark aufbauen", so seine Befürchtung. Schulöffnungen sind seiner Ansicht nach nur dann möglich, "wenn ein umfassendes flankierendes Maßnahmen-Bündel sichergestellt ist". Dieses könnte zum Beispiel Wechselunterricht und kontinuierliche Testkonzepte beinhalten.

Auch die zuerst in Südafrika zirkulierende Variante B.1.351 wurde bereits mehrfach in Deutschland nachgewiesen. Problematisch ist, dass sie sich teilweise dem Impfschutz durch den AstraZeneca-Impfstoff zu entziehen scheint – eben jenem Impfstoff, von dem sich die EU mehr als 300 Millionen Dosen gesichert hat. 

Studiendaten legten zuletzt nahe, dass der Impfstoff nur einen minimalen Schutz vor leichten und moderaten Erkrankungen nach einer Infektion mit der B.1.351-Mutante bietet. Über die Wirksamkeit bei schweren Verläufen wird in der Studie keine Aussage getroffen. Südafrika hat die Impfungen mit dem AstraZeneca-Impfstoff vorläufig gestoppt. 

Neben AstraZeneca sind zwei weitere Corona-Impfstoffe in der EU zugelassen. Es handelt sich dabei um sogenannte mRNA-Impfstoffe. Sie basieren auf einer anderen Technologie. Ersten Untersuchungen zufolge scheinen diese Impfstoffe auch gegen die britische und die südafrikanische Variante zu wirken. Das Vakzin von AstraZeneca soll zumindest einen Schutz vor der britischen Corona-Variante B.1.1.7 bieten. 

Impfungen laufen nur schleppend

Ein weiteres Problem: Es steht nach wie vor nicht ausreichend Impfstoff zur Verfügung, um große Bevölkerungsteile in Deutschland rasch zu impfen und eine Herdenimmunität aufzubauen. "Der Impfstoff ist zwar da, die Produktion läuft, aber es wird dauern, bis alle ihn bekommen", zitiert der "Spiegel" Virologin Melanie Brinkmann. Biontech/Pfizer und AstraZeneca hatten zuletzt mit Lieferschwierigkeiten für Schlagzeilen gesorgt. Doch auch das Einkaufsverhalten der EU stand in den letzten Wochen wiederholt in der Kritik. Der Vorwurf: Die EU habe zu lange mit den Bestellungen gewartet und zu zögerlich geordert.

Auf 100 Menschen kommen in Deutschland derzeit etwa vier verabreichte Impfstoff-Dosen. Im globalen Ranking liegt Deutschland damit auf dem 15. Platz. Zum Vergleich: In den USA kommen auf 100 Personen rund 13 Impfstoffdosen, in Großbritannien 19 und in Israel sogar 67.

Fazit

Trotz sinkender Infektionszahlen ist die Corona-Lage in Deutschland komplex. Ein schneller Bevölkerungsschutz durch die Impfungen ist aufgrund der begrenzten Impfstoff-Kapazität nicht zu erwarten. Eindämmungsmaßnahmen sind und bleiben daher wohl das Mittel der Stunde – so sehr sich auch viele Menschen nach Lockerungen sehnen. 

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