Intensivmediziner fordern sofortigen harten Lockdown: „Deutschland braucht kein Bergamo“

Die Infektionszahlen in Deutschland steigen dramatisch an – und die Lage in den Krankenhäusern spitzt sich zu. Um Zustände wie in Bergamo in der ersten Welle zu verhindern, gibt es laut Intensivmedizinern nur einen Weg: einen sofortigen harten Lockdown.

Über 20.000 Neuinfektion pro Tag und über 200 Todesfälle – die dritte Corona-Welle rollt. Seit Mitte März nimmt das Infektionsgeschehen in Deutschland wieder Fahrt auf: Grund dafür ist die Mutation B.1.1.7, die laut Robert-Koch-Institut mittlerweile für 80 Prozent der Neuinfektionen verantwortlich ist.

Auch in den Krankenhäusern zeigen sich bereits die ersten Auswirkungen dieses rasanten Wachstums: Lagen laut der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) am 10. März noch 2727 Corona-Patienten auf deutschen Intensivstationen, sind es mittlerweile schon 3457 – also über 700 Patienten mehr innerhalb von weniger als drei Wochen. Auch die Anzahl derer, die künstlich beatmet werden, nimmt zu und liegt nun bei 54 Prozent.

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Nur noch ein freies Intensivbett pro Klinik

„Wir müssen von den hohen Zahlen runter! Jetzt. Augenblicklich“, warnt Divi-Präsident Gernot Marx, der die Entwicklung mit großer Sorge beobachtet. Deshalb fordert er zusammen mit seinen Intensiv-Kollegen einen zwei- oder noch besser einen dreiwöchigen harten Lockdown: „Das lässt sich über die Osterferien gut realisieren. Das wird zahlreiche Menschenleben retten und noch viel mehr vor lebenslangen Langzeitfolgen durch Covid-19 bewahren“, so der Mediziner.

„Deutschland braucht kein Bergamo oder Szenarien wie in New York mit Patienten auf dem Fußboden, die sich zu zweit ein Beatmungsgerät teilen müssen“, heißt seitens der Divi weiter.

Doch auch ohne weitere Lockdown-Verschärfungen sehen die Prognosen erst Mal schlecht aus, denn bereits jetzt gibt es in ganz Deutschland nur noch 1644 freie Intensivbetten. Bei circa 1300 Intensivstationen im Land bedeutet dies, dass es im Schnitt nur noch ein freies Bett pro Klinik gibt.

Dramatischer Anstieg lässt sich kaum noch verhindern

Das ist erschreckend wenig, bedenkt man, dass es auch andere behandlungsbedürftige Patienten gibt. „Auch ohne Corona haben wir in Deutschland schon zwei Millionen Intensivpatienten pro Jahr zu versorgen – hinzu kommt noch ein Operationsrückstau aus der zweiten Welle, der noch zu bewältigen ist“, führt Marx gegenüber FOCUS Online aus. Man dürfe außerdem nicht vergessen, dass Corona-Patienten teilweise je nach Schwere extrem lange intensivmedizinisch betreut werden müssen. „Das sind teilweise bis 25 Tage – in Einzelfällen auch mehr.“

Da selbst ein sofortiger Lockdown erst zeitversetzt wirkt, lässt sich kurzfristig ein dramatischer Anstieg Intensivpatienten kaum noch verhindern. „Diese Zahl wird die kommenden zweieinhalb Wochen weiter exponentiell wachsen, egal was wir jetzt tun“, sagt Christian Karagiannidis, Leiter des Divi-Intensivregisters und des Ecmo-Zentrums der Lungenklinik Köln-Merheim. Bei mehr als 5000 Covid-19-Patienten werde die Lage aber kritisch, warnt er. Daher lautet auch sein Appell: „Es muss jetzt etwas passieren.“

Prognosemodell zeigt, was ohne und mit Lockdown passiert

Wie dramatisch die Lage sich in den nächsten Wochen entwickeln könnte, zeigt auch eine Prognosemodell der Divi, das Karagiannidis zusammen mit seinem Divi-Kollegen Steffen Weber-Carstens und Mathematiker-Professor Andreas Schuppert, Leiter des Instituts für Computational Biomedicine an der RWTH Aachen, aufgebaut haben. A. Schuppert, S. Weber-Carstens, C. Karagiannidis Grafik zeigt, wie sich ein Lockdown bei verschiedenen Inzidenzen auf die Anzahl der Intensivpatienten auswirkt

„Unser Modell zeigt mögliche Verläufe. Bis auf mehr als 4500 Patienten werden wir auf jeden Fall wieder hochgehen. Das ist unvermeidbar“, prognostiziert er.

Werde ein harter Lockdown von der Politik beschlossen, könne man es aber schaffen, bei knapp über 5000 Intensivpatienten die Kurve wieder zu senken. „Warten wir aber noch länger, und stoppen erst bei einer Inzidenz von 300 Ende April oder Anfang Mai, werden wir mehr als 6000 Menschen mit Covid-19 auf Intensiv sehen. Ob wir das packen, wage ich zu bezweifeln“, mahnt Karagiannidis.

Trauriger Peak im Januar mit fast 6000 Patienten

Zumal der letzte dramatische Höhepunkt auf den Intensivstationen noch nicht allzu lange her ist und Kliniken und medizinischem Personal noch nachhängt. „Die Bevölkerung hat zwischen Weihnachten und Anfang Januar, wo wir fast 6000 Covid-Patienten versorgt haben, gar nicht mitbekommen, wie knapp es war. Zahlreiche Menschen wurden hier aus dem Osten oder der Mitte Deutschlands nach Norden geflogen. Ein Kraftakt, den wir geschafft haben – aber drei Monate später nicht gleich noch einmal brauchen,“ warnt Weber-Carstens. So gebe es bereits jetzt wegen lokaler Kapazitätsengpässe Anfragen für Verlegungen. Vor allem in Thüringen sehe es diesbezüglich nicht gut aus.

Angesichts dieser Entwicklung richten Marx und seine Kollegen einen eindringlichen Appell an die Politiker und die Bevölkerung: „Keiner will einen harten Lockdown. Wir alle wünschen uns unser altes Leben zurück. Aber wir sind gerade in der wohl kritischsten und entscheidendsten Phase der Pandemie“, erklärt Marx.

Die britische Mutation lasse uns keine andere Wahl als einen harten Lockdown über die Osterferien durchzuführen. Danach könnten wir bei deutlich niedrigeren Inzidenzen mit Schnelltests, PCR-Tests, Impfungen und Apps wieder öffentliches Leben zulassen – anstatt zum völlig falschen Zeitpunkt über Lockerungen nachzudenken.

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