"Und Mama war nicht ansprechbar": Wenn Eltern Alkoholiker sind. Zwei Betroffene berichten

Eltern sollen ihre Kinder beschützen und sie auf die Welt vorbereiten, aber nicht alle Eltern können das. In Deutschland wächst jedes sechste Kind mit einem suchtkranken Elternteil auf, muss erleben, was es bedeutet, wenn Mama oder Papa immer betrunken sind, und meist ist es nicht vorbei, wenn die Kinder erwachsen sind. Viele erleben das gleiche und doch jeder etwas anderes.

Zwei Betroffene haben dem stern erzählt, wie sie die Sucht der Eltern ihr Leben geprägt hat: Mel Peifer, 30, und Marc, 42 (kursive Schrift).

Mel: „Als ich klein war, ließ mein Vater mit mir Drachen steigen und rannte mit mir über die Felder. Das sind schöne Erinnerungen, es sind die einzigen. Bald konnte er nicht mehr mit mir über Felder laufen, und wir ließen keinen Drachen mehr steigen. Mein Vater ist Alkoholiker.

Wir wohnten in Kaarst in der Nähe von Neuss, mein Vater arbeitete bei der Stadt als Beamter, meine Mutter blieb zuhause und kümmerte sich um mich. Er hat immer sein Feierabendbier getrunken, aber wer macht das nicht? Die eigenen Eltern stellt man nicht infrage, schließlich sind sie die Erwachsenen.“

Marc: „An meine Kindheit habe ich kaum schönen Erinnerungen. Als ich fünf Jahre alt war, kam ich von meiner Oma nach Hause und fand meine Mutter: Sie hatte sich erbrochen und war nicht ansprechbar. Ich rief meine Oma an, sagte ihr, dass ich nicht weiß, was mit Mama ist. Der Rettungswagen kam und holte sie ab. Sie pumpten ihr den Magen aus. Ich habe erst später verstanden, was passiert war: Dass meine Mutter Alkoholikerin war und gerade versucht hatte, sich das Leben zu nehmen.

Meine Eltern haben beide getrunken, seit ich mich erinnern kann. Mein Vater war berufsbedingt viel im Ausland, ich blieb fast immer mit meiner Mutter allein. Keine Geschwister, aber eine Großmutter, die auch nicht weiß, was sie tun soll.“

Mel Peifer ist 30 Jahre und lebt in Deutschland und Thailand. Sie schreibt auf www.cosucht-frei.de über ihre Erfahrungen.

Marc ist 42 Jahre alt und möchte seinen Nachnamen nicht öffentlich machen. Er hält regelmäßig Vorträge, um auf die Probleme Kinder suchtkranker Eltern aufmerksam zu machen.

Mel: „Mit zehn Jahren merkte ich langsam, dass etwas nicht stimmte. Mein Vater trank inzwischen kein Feierabendbier mehr, sondern war auf Wein umgestiegen. Viel Wein. Er benahm sich anders, wollte nichts mehr mit mir unternehmen. Die Wochenenden brauchte er jetzt um seinen Rausch auszuschlafen oder noch mehr zu trinken. 

Eines Tages stürzte mein Vater, er war betrunken und konnte nicht mehr laufen. Ich weiß, dass der Sturz vom Alkohol kam und ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Ich hörte die Streitereien mit meiner Mutter, hörte, dass sie sich wegen seiner Trinkerei stritten. Mein Vater sollte noch sehr oft stürzen. So oft, dass es mir irgendwann egal wurde. Papa ist betrunken, Papa fällt hin. Wenn es immer und immer wieder passiert, wird es zur Normalität.

Trotzdem hat es wehgetan, meinen Vater so zu sehen. Wenn er betrunken war, war er nicht mehr der große, starke Mann, er war schwach. Wenn nicht mal die eigenen Eltern stark sind, die Menschen, zu denen man aufblickt, wer soll es dann sein?“

„Für eine normale Kindheit war kein Platz“

Marc: „Nach dem Selbstmordversuch meiner Mutter habe ich verstanden, dass ihr geholfen wird, wenn ich den Notruf wähle. Irgendwann kannten die mich dort, weil ich so oft angerufen habe, wenn meine Mutter wieder unerträglich betrunken war. Sie machte Entgiftungskuren und Langzeittherapien, war immer wieder ein paar Wochen weg. Wenn sie weg war, ging es mir besser, denn das hieß, dass sie in Sicherheit war.

Als Kind habe ich gedacht, meine Mutter sei von einem Dämon besessen und deswegen sei sie so. Das war meine einzige Erklärung. Dieser Dämon war in Flaschen und in Tabletten. Ich war so wütend, aber ich habe sie auch so geliebt. Es sind die eigenen Eltern, man kann sie nicht hassen. 

Wenn meine Mutter betrunken war, kam es auch vor, dass sie mich schlug. Einmal lief sie mir mit dem Messer hinterher. Ich flüchtete damals zu Nachbarn. Anders wusste ich mir nicht zu helfen, ich fühlte mich hilflos. Als Kind ist es unmöglich zu verstehen, warum das passiert. So wie der Partner habe auch ich als Kind die Verantwortung übernommen.“ 

Mel: „Unter der Woche funktionierte mein Vater gut. Er ging arbeiten, nur manchmal meldete er sich krank, weil er zu betrunken war. Meine Großeltern, seine Eltern, waren die einzigen, mit denen meine Mutter und ich redeten. Aber sie sagten das Gleiche wie mein Vater: Man wird sich doch wohl mal etwas gönnen dürfen.

Mein Vater wollte nichts davon hören, dass er ein Problem hat. Er sagte immer wieder, dass er sofort aufhören könne zu trinken, wenn er wolle. Aber er wollte nicht. Ich habe immer gedacht, dass das meine Schuld sei. Ich dachte, ich bin nicht liebenswert genug und deswegen trinkt mein Vater. Ich wusste immer, dass er mich von ganzem Herzen liebt. Deswegen habe ich umso weniger verstanden, warum er nicht für mich aufhören konnte.“

Marc: „Ich bin in der dritten Klasse ins Internat gekommen, weg von Zuhause, zumindest unter der Woche. An den Wochenenden war es wie immer: Meine Mutter trank und ich fühlte mich verantwortlich. Egal wie wütend ich war, ich habe es nicht geschafft, nicht für sie da zu sein. Ich war im Überlebensmodus, habe nur gemacht, was es braucht, um zu funktionieren. Alles andere war mir egal. Für eine normale Kindheit war kein Platz.“

„Ich wollte den Schmerz nicht mehr spüren“

Mel: „In der Pubertät flüchtete ich mich ins Internet. Ich spielte Computerspiele, verbrachte Tage in irgendwelchen anonymen Chatrooms. Ich wusste nicht, wer ich war, und dort konnte ich mir eine andere Identität ausdenken.“ 

Marc: „Mit 14 habe ich zum ersten Mal Drogen genommen. Ich wollte den Schmerz nicht mehr spüren, den meine Eltern in mir auslösten. Ich habe alles geschluckt, was ich bekommen konnte. Meine Freunde waren genau so zerstörerisch drauf wie meine Eltern – und wie ich.

Ich weiß jetzt, dass ich mir diese Freunde gesucht habe, weil sie meinem Umfeld ähnlich waren. Man umgibt sich mit dem, was man kennt. Mit Menschen, die die eigenen Fehler nicht infrage stellen.“

Marc: „Mit 17 bin ich ausgezogen. Alle waren völlig überfordert, meine Verwandten konnten mir nicht helfen. Ich habe weiter Drogen genommen, war süchtig. Ich wollte dumm werden, wollte vergessen, wie es zuhause ist. Manchmal stand mein Vater vor mir und konnte nur noch mit den Zähnen knirschen, so betrunken war er. 

Ich bin lange genau in die gleichen Muster wie meine Eltern verfallen. Ich habe Anzeigen wegen Körperverletzung bekommen, habe mich zugedröhnt. Meine Beziehungen sind gescheitert, alle Frauen waren genau so problematisch wie ich. Es gab niemanden, der mir sagen konnte, auf welchen Abgrund ich gerade zusteuere, weil alle das Gleiche gemacht haben.“

Mel: „Im Studium habe ich den Plan gefasst, eine Weltreise zu machen. Langsam habe ich mich kennengelernt, habe gemerkt, wer ich eigentlich bin und dass das Leben mehr ist, als nur das Kind eines Alkoholikers zu sein. Ich war am anderen Ende der Welt, und ich habe mich so lebendig gefühlt. Dort habe ich auch meinen Verlobten kennengelernt, bin danach mit ihm in die Schweiz gegangen. 

Irgendwann ist meine Mutter zusammengebrochen und hat endlich eingesehen, dass es so nicht mehr geht. Ich habe sie erst zu mir geholt und ihr dann einen Flug nach Thailand gebucht, zurück zu ihrer Familie. Mein Vater blieb allein – und trank weiter jeden Tag.“ 

Marc: „Mit Mitte 20 bin ich nach Indien gereist, ich hatte durch einen Freund angefangen, mich für Buddhismus zu interessieren. Ich war tausende Kilometer weit weg, aber meine Probleme hatte ich im Rucksack dabei. Als ich wieder in Deutschland war, habe ich einen Entzug gemacht und neun Monate in einer Klinik das Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker gemacht.“ 

Mel: „Irgendwann bin auch ich zusammengebrochen. Nichts ging mehr, ich hatte keine Kraft, habe nur noch geweint. Erst da habe ich verstanden, dass ich Hilfe brauche, dass ich dieses Leben nicht alleine aufarbeiten kann. Ich bin zu einer Suchtberatungsstelle, habe zum ersten Mal mit jemandem darüber gesprochen, was ich erlebt habe und habe erst dann begonnen zu verstehen, dass nicht nur mein Vater krank ist, sondern ich auch. Mich hat endlich jemand verstanden und mir gezeigt, dass es Hilfe gibt.

Zuhause habe ich gesehen, dass das Leben ein Kampf ist, dass es nicht lebenswert ist, sondern nur voll mit Schmerz. Ich wusste, wie ich überlebe, aber nicht, wie ich lebe. Wie aus dem verlorenen Kind eine glückliche Erwachsene wird. 

Ich habe noch einmal vor meinem Vater gekniet, habe ihm bei der Körperpflege geholfen. Es war einer der seltenen klaren Momente. ‚Weißt du, dass du sterben wirst, wenn du nicht aufhörst zu trinken?‘, habe ich ihn gefragt.  ‚Ja.‘ – ‚Ist das okay für dich?‘ – ‚Ja.‘ 

Ich wusste, er hatte aufgegeben, und ich konnte es plötzlich akzeptieren. 

Auch wenn es so oft wehgetan hat, bin ich dankbar für dieses Leben. Ich bin dankbar für die Erfahrungen, ohne die ich nicht wäre, wer ich bin. Mein Vater hat nicht aus mangelnder Liebe getrunken, er hat getrunken, weil er nicht anders konnte. Ich habe verstanden, was Co-Abhängigkeit ist, und angefangen, Verantwortung für mein eigenes Leben zu übernehmen. Ich spreche offen über meinen Vater, schreibe darüber auf meinem Blog. Ich will anderen Kindern von Alkoholikern zeigen, dass es geht, dass man glücklich werden kann und nicht in die Fußstapfen seiner Eltern treten muss.“ 

„Lieber Papa, ich gebe dir nicht die Schuld“

Marc: „Heute bin ich clean und habe ein normales Verhältnis zu Alkohol. Aber ich bin inzwischen seit meinem halben Leben in Therapie, immer und immer wieder. Es ist wichtig, sich Hilfe zu holen und zu verstehen, dass man es alleine nicht schafft. 

Sind Sie alkoholkrank oder haben Bekannte oder Verwandte mit Suchtproblemen? Es gibt Hilfe: Eine Übersicht von Beratungsstellen bietet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), das BZgA-Infotelefon erreichen Sie unter (0221) 802031. Auf www.kenn-dein-limit.de können Sie einen Selbsttest machen.

Ich bin immer noch dabei, meinen Eltern zu vergeben. Und auch mir selbst. Niemand schlägt gerne die eigenen Eltern, wird kriminell und gewalttätig. Die Wunden sind heute Narben, aber sie tun immer noch weh. Irgendwann habe ich verstanden, dass ich aufhören muss, auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen. Meine Tochter ist jetzt fünf Jahre alt. So alt wie ich war, als ich meine Mutter nach ihrem Selbstmordversuch fand. Manchmal ist es schwer für mich, sie zu sehen, weil sie mich so sehr an meine eigene Kindheit erinnert. Aber ich bin froh, dass ihre Kindheit schöner ist. 

Eigentlich bin ich meinen Eltern sogar dankbar für dieses Leben. Diese Gesellschaft ist so kaputt, so wie mein Leben lange war, deswegen kann ich besser damit umgehen als viele andere.“

Mel: „Heute habe ich keinen Kontakt mehr zu meinem Vater, der Alkohol hat sein Gehirn zerstört. Er ist nicht mehr der Mann, der mein Vater war, der ist vor langer Zeit schon gestorben. Trotzdem vermisse ich ihn jeden Tag. Ich weiß, dass er es nicht mehr versteht, aber ich will, dass mein Vater etwas weiß: Lieber Papa, ich gebe dir nicht die Schuld. Trotz all der Lügen und Enttäuschungen und all dem Schmerz, liebe ich dich. Du hast als Vater nicht versagt, deine Tochter ist ein glückliches Mädchen. Und ich verspreche dir, dass ich mein Leben so gut leben werde, wie ich nur kann.“


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