Schlau im Schlaf

SPIEGEL ONLINE: Herr Born, wie lange haben Sie gestern Nacht geschlafen?

Born: Sieben Stunden.

SPIEGEL ONLINE: Reicht das als Arbeitszeit für Ihr Gedächtnis?

Born: Das reicht, und auf eine einzige Nacht kommt es sowieso nicht an.

SPIEGEL ONLINE: Wie wird denn das Gedächtnis während des Schlafs gebildet?

Born: Zum einen werden Inhalte im Langzeitgedächtnis verfestigt. Zum anderen werden die Informationen, die während des Tages aufgenommen wurden, gefiltert. Was ist relevant, und was kann man getrost vergessen? In diesem Selektionsprozess entscheidet das Gehirn, welche Informationen es benötigt, damit wir optimal an unsere Umwelt adaptiert sind. Was ist bedeutsam für unser künftiges Verhalten? Für die Umsetzung unserer Pläne?

SPIEGEL ONLINE: Die Instanz im Gehirn bewertet und ordnet die Informationen also.

Born: Ja, und das lässt sich auch zeigen. In einem Experiment mussten Versuchspersonen Vokabeln lernen. Aber der Schlaf verstärkte nur bei denjenigen das Gedächtnis für die Vokabeln, die vorher wussten, dass die Vokabeln zu einem späteren Zeitpunkt abgefragt werden würden. Bei den anderen wurden die Vokabeln als nutzloses Wissen wieder gelöscht.

SPIEGEL ONLINE: Aber es gibt nicht immer jemanden, der verkündet, welche Informationen relevant sein werden.

Born: Richtig, nach welchen Kriterien das Gehirn entscheidet, welche Information im Schlaf langfristig abgespeichert wird, wissen wir nicht genau. Wir vermuten, dass das Gehirn im Schlaf sogenannte invariante Information herausfiltert und darüber konzeptuelle Repräsentationen herausbildet. Kinder werden ja in den ersten Lebensjahren mit ungeheuer vielen neuen Reizen überflutet, und sie müssen daher viel schlafen, um diese Informationsmenge bewältigen zu können und Regelhaftigkeiten herauszufiltern.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie ein Beispiel?

Born: Kinder sehen zu den unterschiedlichsten Gelegenheiten in verschiedenen Straßen, dass da manchmal so ein rotes Licht in einem Kasten leuchtet. Und wenn das leuchtet, dann bleiben Mama oder Papa mit dem Kinderwagen stehen. Die Kinder speichern nun diese konkrete Information und filtern dann aus den verschiedenen Wiederholungen dieser Erfahrung eine konzeptuelle Repräsentation heraus: Eine rote Ampel bedeutet, dass man stehen bleiben muss.

SPIEGEL ONLINE: Und das geschieht während des Schlafens?

Born: Ja, davon gehen wir heute aus. Wir haben in Untersuchungen Hinweise darauf gefunden, dass wir ohne Schlaf weder eine Sprache einschließlich ihrer konzeptuellen Begrifflichkeiten und grammatischen Regeln lernen noch abstrakt denken könnten.

SPIEGEL ONLINE: Während des Schlafens wird also andererseits vergessen, was irrelevant ist?

Born: Es deutet vieles darauf hin. Unnötiges Detailwissen wird aussortiert, und das, was wir öfter hören, sehen, erfahren, wird zusammengefasst und behalten. Wir speichern ab, dass Berlin die Hauptstadt von Deutschland ist. Wann und in welchem Kontext wir diese Information zum ersten Mal gehört haben, das vergessen wir aber. Die Kapazität des Gehirns, Dinge abzuspeichern, ist sehr groß, aber nicht unbegrenzt.


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SPIEGEL ONLINE: Kann man sein Gedächtnis verbessern, indem man dem Gehirn für diesen Prozess einfach mehr Zeit gibt und lieber länger schläft?

Born: Nein, das funktioniert leider nicht, mehr als ausschlafen kann man nicht. Aber umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wenn man dauerhaft nur fünf Stunden schläft, dann sinkt die Gedächtnisleistung. Werfen wir mal einen Blick über die Arten hinweg: Es gibt Drosophila-Fliegen, die sind so gezüchtet, dass sie nur kurz schlafen. Und tatsächlich sind diese weniger intelligent als andere Drosophila-Fliegen, die länger schlafen.

SPIEGEL ONLINE: In der Nacht vor einer wichtigen Prüfung sollte man demnach lange schlafen?

Born: Nein, da tanken Sie besser am Abend vorher noch mal viele Informationen, damit Sie am nächsten Tag auf möglichst viel Wissen zurückgreifen können. Auf die Verankerung im Langzeitgedächtnis kommt es in dieser Situation ja weniger an. Ausgeschlafen sollten Sie aber trotzdem sein.

SPIEGEL ONLINE: In welcher Schlafphase wird das Gedächtnis denn gebildet?

Born: Früher glaubte man, das passiere in der Rapid-Eye-Movement-Phase, weil wir da träumen. Und die Vermutung war, dass die Traumbilder durch die Reaktivierung und Abspeicherung von Erlebtem oder von neuem Wissen entstehen. Das ist aber nicht richtig. Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Konsolidierung von Gedächtnisinhalten und ihre Abspeicherung im Langzeitspeicher hauptsächlich im Tiefschlaf stattfindet, der auch als Deltaschlaf bezeichnet wird, und besonders ausgeprägt am Anfang der Nacht ist.

SPIEGEL ONLINE: Das heißt, Träume haben mit dem Gedächtnis nichts zu tun?

Born: Nein, sie sind vermutlich ein Abfallprodukt der Aktivität des Gehirns, und die Träume, die wir erinnern, entstehen wohl in der Regel, wenn das Gehirn am Aufwachen ist.

SPIEGEL ONLINE: Da der Tiefschlaf für das Gedächtnis so wichtig ist: Wie kann man ihn verbessern?

Born: Bei Menschen ab vierzig Jahren nimmt der Tiefschlaf kontinuierlich ab. Achtzigjährige haben nur noch wenig Tiefschlaf. Parallel dazu sinkt auch die Menge der Gedächtnisinhalte, die neu gebildet werden können. Zum Glück haben ältere Menschen sehr viel Vorwissen, so dass sie neue Informationen relativ schnell damit verknüpfen können. Daher brauchen sie wohl auch nicht so viel Schlaf. Trotzdem kann man auch in diesem Alter den Tiefschlaf noch verbessern, indem man sich tagsüber etwa durch mentale Anstrengung oder durch Sport aktiviert und dann abends einfach müder ist. Wer tagsüber aktiver ist, schläft nachts auch tiefer. Man sollte mit den Aktivitäten aber einige Zeit vor dem Einschlafen aufhören. Vor dem Zubettgehen noch zu joggen, ist kontraproduktiv.



SPIEGEL ONLINE: Ist ein Glas Rotwein hilfreich?

Born: Das ist immer eine Frage der Dosis. Eine geringe Menge hilft beim Einschlafen, eine zu große Menge stört den Tiefschlaf. Und bei einer zu großen Menge kommt es nach dem Abbau des Alkohols außerdem zu einer Unterzuckerung, wodurch man dann aufwacht.

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