Der Bundestag lehnt Widerspruchslösung ab – doch die Alternative ist auch keine Lösung
Ich habe gesehen, wie zwei Männern ein neues Herz eingepflanzt wurde. Ich war dabei, als einer jungen Frau die Organe entnommen wurden. Ich habe mit einem Vater gesprochen, der seine zwei Kinder bei einem Autounfall verlor und dessen Sohn seine Organe spendete. Ich habe über Wochen und Monate meinen Beruf als Journalisten dafür genutzt, um so viel über die Organspende zu erfahren, wie es mir möglich erschien. Daraus entstand unter anderem eine große Online-Reportage.
Eben habe ich den Artikel aktualisiert. Denn seit heute ist die Idee einer Widerspruchslösung fürs Erste Geschichte. Eine Mehrheit im Bundestag hat entschieden, dass weiterhin nur derjenige Organspender werden kann, der Ja gesagt hat oder dessen Angehörige Ja sagen.
Ist das gut oder schlecht?
Mir sollte es nicht schwerfallen, eine Antwort zu geben, bei all dem, was ich durch meine Recherchen erfahren habe. Aber es fällt mir schwer. Denn die Organspende ist ein Thema, das immer komplizierter wird, je mehr man darüber weiß.
"Die Spende"
Die letzte Gabe eines Menschen, der keine Chance mehr hatte — einem Fremden aber eine schenkt
Das liegt nicht an den Organspende-Skandalen der vergangenen Jahre. Es ist gut, wenn so etwas herauskommt. Aber es wäre falsch, wenn deswegen breites Misstrauen und breite Verunsicherung herrschen würden. Ich habe das System kennengelernt. Habe erlebt, wie gründlich die Ärzte arbeiten. Gesehen, wie viele Kontrollmechanismen greifen. Ich stand in dem verglasten Raum in der niederländischen Stadt Leiden, in dem die Organe per Computeralgorithmen an die Empfänger verteilt werden. Es ist unmöglich, ein perfektes System zu finden, wenn man aufgrund des Organmangels gezwungen ist auszuwählen, wen man rettet und wen nicht. Bestimmt wird es irgendwann wieder Menschen geben, die die Regeln brechen. Aber deswegen sollte man das System nicht verdammen. Es war schließlich das System und seine verbesserten Kontrollinstanzen, die in den vergangenen Jahren die Fehler gefunden haben.
Mir fällt es schwer, das neue Gesetz zu beurteilen, weil ich weiß, dass es bei diesem Thema keine gute Lösung geben kann. Wir Menschen wollen aber eine gute Lösung. Und wir finden oft jene Politiker am besten, die sie uns versprechen. Beim Thema Organspende würde ich jedem misstrauen, der mir eine simple Lösung präsentiert.
Die Widerspruchslösung wird oft als „einfach“ und „gut“ betitelt. Sie wird gelobt für ihre Klarheit: Wer nicht ausdrücklich Nein sagt, wird Organspender. Fertig. Gerne heißt es dann auch, so etwas verstehe schließlich jeder und dann setze sich auch endlich jeder mit der Frage auseinander.
Ich sehe das anders. In dem Lösungsvorschlag von Gesundheitsminister Jens Spahn steht der komplizierte aber wichtige Satz: „Der nächste Angehörige ist vom Arzt, der die Organ- oder Gewebeentnahme vornehmen (…) soll, nur darüber zu befragen, ob ihm ein schriftlicher Widerspruch oder ein der Organ- oder Gewebeentnahme entgegenstehender Wille des möglichen Organ- oder Gewebespenders bekannt ist. Weitergehende Nachforschungen obliegen dem Arzt nicht.“
Will ich nach meinem Hirntod Organe spenden? Eine Antwort auf diese Frage sei „zumutbar“, findet stern-Redakteur Dominik Stawski.
Wer nicht über seinen Wunsch redet – oder reden kann – würde Spender
Er bedeutet folgendes: Wenn ich den Hirntod erleiden würde und ich hätte keinen Organspendeausweis und niemals mit meiner Frau über meine Einstellung zur Organspende gesprochen, dann bliebe ihr in dieser Situation nur zu sagen, dass sie nichts von einem entgegenstehenden Willen wüsste. Ich würde Organspender, obwohl ich nie Ja dazu gesagt hätte. Das ist das zentrale Problem, das ich mit der Widerspruchslösung habe. Bei Menschen, die alleine sind, die keine Angehörigen haben, wäre das Risiko, dass sie zu Spendern würden, obwohl sie es nicht wollten, beträchtlich. Dabei geht es um das Herausoperieren von Organen, um etwas also, das persönlicher und intimer nicht sein könnte. Von daher bin ich froh, dass die Mehrheit des Bundestags heute gegen die Widerspruchslösung gestimmt hat.
Debatte um Organspende
Der Herzchirurg hat einen Organspendeausweis, die Medizinethikerin nicht. Beide habe gute Gründe
Mir fällt das Schreiben dieser Zeilen aber auch so schwer, weil ich zum Beispiel einen herzensguten, aber am Herzen erkrankten Mann für eine Reportage begleitet habe, der so lange warten musste und so schwach wurde, dass ihn selbst die Transplantation nicht mehr retten konnte. Er starb auch wegen des Organmangels und mit ihm ging viel Freude von dieser Welt.
Ich will, dass diese Menschen gerettet werden. Deswegen ist es gut, dass bereits vergangenes Jahr ein Gesetz beschlossen wurde, das die Bedingungen für die Organspende in den Kliniken verbessern soll. Sie war im Klinikalltag bislang nur eine Nebensache. Ich war dabei, als ein Herzchirurg spät abends zu einer Organentnahme eilte, da hatte er schon einen Tag im OP hinter sich. Die Nacht arbeitete er freiwillig durch, am nächsten Vormittag musste er wieder im OP stehen.
Ich will, dass so etwas nicht nötig ist. Wir brauchen also neue Gesetze, aber eben solche, die den Bürger selber entscheiden lassen, ob er spendet oder nicht. Nun klinge ich wie die Grünen-Politikerin Annalena Baerbock, wie ein Unterstützer der sogenannten Entscheidungslösung, wie sie nach dem Beschluss im Bundestag heute weiterhin in Deutschland gelten soll. Jeder Bürger ist frei, sich einen Ausweis herunterzuladen und Ja oder Nein anzukreuzen. Das Problem ist nur, dass es nicht alle machen. Heute wurde beschlossen, dass wir nun regelmäßig gefragt werden sollen, auf dem Amt zum Beispiel, wenn wir einen Ausweis beantragen. Es soll nun häufiger „möglich sein“, heißt es in dem Begleittext zum neuen Gesetz, dass wir uns entscheiden.
Die Entscheidungslösung – ein Etikettenschwindel
Für mich ist es ein Etikettenschwindel, dies als „Entscheidungslösung“ zu bezeichnen. Denn ich muss mich ja nicht entscheiden, ich kann weiterhin einfach gar nichts tun. Ich glaube nicht daran, dass es viel ändern wird, wenn mir auf dem Amt jemand ein paar Informationsbögen überreicht mit der Bitte, sich das anzuschauen und einen Eintrag in einem neuen Register vornehmen zu lassen. Vor ein paar Jahren gab es etwas Ähnliches, nämlich die Aufklärungsbriefe der Krankenkassen. Ich weiß nicht, wie viel Tonnen Papiermüll sie zur Folge hatten.
Ich bin davon überzeugt, dass die Lösung zwischen diesen beiden Vorschlägen liegt. Dass es nämlich eine Pflicht geben sollte, sich zu entscheiden. Der Deutsche Ethikrat, ein Gremium von Wissenschaftlern, darunter Juristen, Ethiker und Mediziner, die die Politik beraten, diskutierte eine solche Idee bereits vor einigen Jahren. Die Frage kam auf, wie man eine sogenannte „Äußerungspflicht“ durchsetzen will.
Ich bin kein Verwaltungs- oder Verfassungsjurist, aber ich hege die Hoffnung, dass es sich beispielsweise mit der Beantragung eines Ausweises vereinbaren lässt. Für einen Ausweis werde ich gefragt, wie groß ich bin, welche Augenfarbe ich besitze. Ich muss sogar ein biometrisches Foto vorlegen, weil die Staatengemeinschaft sagt, dass sie damit etwa an Flughäfen die Sicherheit gewährleisten und im Extremfall Leben bewahren könne. Ein verpflichtendes Ja oder Nein zur Organspende könnte genauso Leben retten – auf alle Fälle aber Klarheit bringen, was der Mensch will. Ich finde es zumutbar, eine Antwort zu verlangen.
Ich trage nun einen Ausweis bei mir. Habe Ja angekreuzt. Aber genauso gut wäre ein Nein. Meine Frau ist froh, dass sie Bescheid weiß. Denn es kann das Gewissen belasten, wenn die Frage der Ärzte kommt, und man die Antwort, den letzten Willen seines Angehörigen, nicht kennt.
Der Vater, der seine beiden Kinder bei dem Autounfall verlor, sagte mir: „Wenn ich den Willen meines Sohnes nicht gekannt hätte, ich weiß nicht, wie ich entschieden hätte.“
Er heißt Heiner Röschert. Sein Sohn Felix hat mit seinen Organen vier Menschen gerettet. Und er hat mit seiner Entscheidung für ein Ja zu Lebzeiten seinem Vater in den schlimmsten Stunden ein Stück Last genommen.
Heiner Röschert engagiert sich bis heute für die Organspende. Sein oberstes Ziel: Er will, dass sich die Menschen festlegen. Ja oder Nein.
Und auch er glaubt: Ohne Pflicht zur Entscheidung geht es nicht.
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