Das ist dran an der Zahl der Abgas-Toten in Deutschland


Feinstaub und Stickoxide aus dem Verkehr sind nicht gut für die Gesundheit – daran zweifelt wohl kaum noch jemand. Wie sehr Schadstoffe allerdings krank machen, ist umstritten und schwer in Formeln zu fassen. In einer aktuellen Studie beispielsweise haben Wissenschaftler errechnet, dass der Verkehr weltweit für 385.000 vorzeitige Todesfälle verantwortlich sein soll, in Deutschland für 13.000 vorzeitige Todesfälle. Die Zahlen stammen von dem umweltnahen Forschungsinstitut ICCT (International Council on Clean Transportation), das im September 2015 den Dieselskandal bei VW aufgedeckt hatte.

Bezogen auf die Bevölkerungsgröße sterben laut ICCT-Studie nirgends mehr Menschen frühzeitig an Verkehrsabgasen als in Deutschland. Je 100.000 Einwohner seien es hierzulande 17 vorzeitige Todesfälle, heißt es in dem Bericht. Diese Sterberate ist laut ICCT dreimal so hoch wie der globale Durchschnitt und liegt knapp 50 Prozent über dem Durchschnitt aller EU-Länder. Einer der wichtigsten Gründe dafür sei der hohe Anteil an Dieselfahrzeugen, die besonders viel Feinstaub und Stickoxide (NOX) ausstoßen, so das Ergebnis der Untersuchung.

Was ist das Problem?

Ein Todesfall gilt dann als vorzeitig, wenn eine Person stirbt, bevor sie ihre statistische Lebenserwartung bei Geburt erreicht hat. Die Einheit sagt nichts darüber aus, wie viel kürzer ein Mensch lebt, ob er oder sie also statistisch betrachtet im Schnitt ein paar Stunden oder mehrere Jahre früher gestorben ist.

In der aktuellen ICCT-Studie haben die Forscher berechnet, wie viel Prozent der Verstorbenen in einem Jahr statistisch gesehen noch am Leben gewesen wären, wenn es die Schadstoffbelastung durch die Autoabgase nicht gegeben hätte. „Wir haben uns in dem Bericht auf vorzeitige Todesfälle fokussiert, weil das für die Öffentlichkeit leichter zu verstehen ist“, erklären die Forscher in einem Statement.

Genau das ist allerdings fraglich, denn selbst unter Statistikern ist die Maßeinheit umstritten. „Zunächst stirbt in Deutschland kein einziger Mensch an Feinstaub, sondern an Erkrankungen, die durch Feinstaub (mit) verursacht sein können, es aber nicht sein müssen“, kritisierte kürzlich die Statistikerin Katharina Schüller. Damals ging es um eine Studie des Max-Planck-Instituts, die ebenfalls die Maßeinheit „vorzeitige Todesfälle“ benutzte. Schüller nannte das Konzept ein „Musterbeispiel einer Unstatistik“.

Auch die ICCT-Studie bewertet sie kritisch. Hinter der Ermittlung der vorzeitigen Todesfälle steckten nicht bloß Daten, sondern auch Annahmen über die Realität. Diese seien mit einer Unsicherheit von mindestens 30 Prozent verbunden. „Gravierender ist aus meiner Sicht, dass die Studie eine Präzision und Sicherheit suggeriert, die schlicht nicht gegeben ist“, teilte sie auf Anfrage des SPIEGEL mit. Diese Art der Wissenschaftskommunikation sei grob fahrlässig. „Sie führt zu erheblichen Fehleinschätzungen der Aussagekraft von Daten und statistischen Modellen in der breiten Öffentlichkeit“, so Schüller.

Das Problem ist, dass die Zahlen offenbar etwas anderes transportieren, als sie meinen. Denn es handelt sich bei den vorzeitigen Todesfällen nicht um klinisch identifizierbare Todesfälle, auch wenn es danach klingt. Auch das Umweltbundesamt (Uba) hatte in einer Studie vorzeitige Todesfälle als Maßeinheit verwendet und war dafür von Wissenschaftlern gescholten worden.

In einer Stellungnahme wies das Uba die Kritik allerdings zurück: Mit der Angabe von vorzeitigen Todesfällen gebe man keinesfalls an – so wie es sich für die meisten Laien liest -, wie viele echte Menschen vor Erreichen ihrer statistischen Lebenserwartung durch Feinstaub und Stickoxide gestorben seien. Viel mehr handele es sich um „Indikatoren für den Gesundheitszustand der Gesamtbevölkerung“, sprich: Den Abgasen werden Risiken zugeordnet, die sich ganz allgemein auf die Lebenserwartung der Bevölkerung auswirken, nicht aber einzelne, echte Todesfälle auslösen.

Welche Alternativen gibt es?

Ein anderes Messinstrument für die gesundheitlichen Auswirkungen von Feinstaub und Ozon sind die Lebensjahre, die Menschen durch die Abgasbelastung verlieren (years of life lost, YLL). Als Vergleichsgröße dient dabei ebenfalls die Lebenserwartung, die ein Mensch bei seiner Geburt hat. In der aktuellen ICCT-Studie geben die Autoren an, dass der Menschheit im Jahr 2015 weltweit 7,8 Millionen Lebensjahre durch Feinstaub und Ozon verloren ginge. Verteilt auf eine Weltbevölkerung von damals rund 7,3 Milliarden Menschen sind es demnach etwas mehr als neun Stunden, die ein Mensch im Schnitt verloren hat.

Das klingt zwar schon viel weniger dramatisch. Klar dürfte aber auch sein, dass dieses Maß allein ebenfalls nicht taugt, um die Gesundheitsgefahren durch Feinstaub und NOX sinnvoll zu beziffern – zumindest nicht global betrachtet. Genauer wäre eine Betrachtung wenigstens nach Nationen, besser noch nach Regionen. Denn die Luftverschmutzung etwa in Indien ist zwar größer als in Kanada. Aber auch innerhalb eines Landes gibt es massive Unterschiede: So gilt Neu-Delhi als Smog-Hauptstadt der Welt, im nordindischen Bergland dagegen dürfte die Luft recht gut sein.

Eine Studie vom August 2016 beziffert die verlorene Lebenszeit durch Feinstaubbelastung in Deutschland beispielsweise auf 0,39 Jahre. In einigen afrikanischen und asiatischen Ländern, in denen der Feinstaubanteil in der Luft besonders hoch ist, verlieren die Menschen dagegen demnach im Schnitt bis zu 1,9 Lebensjahre. In der Untersuchung ging es jedoch um die generelle Luftverschmutzung und nicht explizit um die, die durch den Verkehr verursacht wurde.

Eine weitere Möglichkeit darzustellen, wie sehr ein bestimmter Faktor die Gesundheit innerhalb einer Bevölkerung belastet, sind sogenannte Dalys (Disability-adjusted life years). Sie berechnen sich aus der Summe der verlorenen Lebensjahre (YLL) und den verlorenen Lebensjahren durch Krankheit. Die Maßeinheit vermittelt also einen Eindruck, wie sehr ein bestimmter Faktor die Gesundheit zu Lebzeiten beeinträchtigt.

Solche Hochrechnungen stehen allgemein vor dem Problem, die gesundheitliche Gefahr eines einzelnen Faktors richtig einzuschätzen. Ein Beispiel kann das verdeutlichen: Statistisch betrachtet stirbt ein Mensch, der an einer viel befahrenen Straße wohnt, früher als einer, der im Grünen lebt. Die ungeprüfte Schlussfolgerung, die Abgase der viel befahrenen Straße müssten demnach allein verantwortlich für den vorzeitigen Tod sein, wäre aber falsch. Denn andere Faktoren könnten eine viel größere Rolle spielen: Vielleicht lebt der Mensch an der Straße, weil er wenig Geld hat und die Miete dort günstiger ist? Ernährt er sich deshalb auch ungesünder und treibt weniger Sport als derjenige, der sich ein Einfamilienhaus auf dem Land leisten kann?

Es gibt Modelle, mit denen sich solche Faktoren herausrechnen lassen, allerdings sind sie mit Unsicherheiten verbunden. Die Ergebnisse sind deshalb als eine Annäherung zu verstehen und stellen keine klar messbare, real existierende Größe dar.

Wie wirken sich Stickoxide auf die Gesundheit aus?

Stickoxide sind zwei gasförmige Verbindungen, die zusammen als NOX abgekürzt werden. Das ätzende Reizgas Stickstoffdioxid gelangt hauptsächlich beim Atmen in den Körper und dringt bis zur Lunge vor. Ab einer bestimmten Menge kann es die Atemwege reizen und so Brustschmerzen, Atemnot und Husten verursachen. Menschen, die über längere Zeit einer erhöhten Stickstoffdioxidbelastung ausgesetzt sind, haben ein erhöhtes Risiko für Asthma, Atemwegsinfektionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Besonders gefährdet sind Personen mit Grunderkrankungen sowie Kinder, da sich ihre Atemwege noch entwickeln.

Stickoxide sind neben Ammoniak und anderen Gasen ein Ausgangsstoff für die Entstehung von Feinstaub – der anderen Gruppe von Luftschadstoffen, um die es in der aktuellen Debatte geht.

Wie wirkt sich Feinstaub auf den Körper aus?

Das Problem mit Feinstaub ist: Je kleiner die Partikel sind, desto weiter dringen sie in den Körper vor, wenn sie eingeatmet werden. Feinstaubteilchen mit einer Größe von weniger als zehn Mikrometern (PM10) verbleiben größtenteils in den oberen Atemwegen, also dem Rachen, der Luftröhre oder den Bronchien. PM2,5 (kleiner als 2,5 Mikrometer) gelangen dagegen bis in die Lungenbläschen.

Die ultrafeinen Partikel (UFP) können sogar in den Blutkreislauf übergehen und so im Prinzip sämtliche Körperregionen erreichen und dort Schaden anrichten. Man geht davon aus, dass UFP unter anderem in den Blutgefäßen Entzündungsprozesse in den Gefäßwänden auslösen und damit die Arterienverkalkung sowie das Entstehen von Blutgerinnseln fördern.

Anders als bei den Stickoxiden gilt die schädliche Wirkung des Feinstaubs als eindeutig nachgewiesen. Feinstaub reizt Atemwege und Schleimhäute, damit kann er Atemwegsprobleme wie Husten, Atemnot und Asthma entstehen lassen oder verstärken. Auch an der Entstehung von Lungenkrebs können die Partikel beteiligt sein. Wenn sie ins Blut gelangen, richten sie auch dort Schäden an, das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen – Herzrhythmusstörungen, Arterienverkalkung und Infarkt – steigt.

Zusammengefasst: Feinstaub und Stickoxide belasten die Gesundheit. Hochrechnungen, die die gesundheitlichen Schäden mit vorzeitigen Todesfällen beziffern, sind jedoch umstritten, weil sie suggerieren, dass real existierende Menschen an den Folgen von Luftverschmutzung durch Abgase gestorben sind. Tatsächlich soll die Messgröße einen Eindruck des allgemeinen gesundheitlichen Zustandes der Bevölkerung vermitteln. Bezogen auf Deutschland sind also nicht 13.000 „echte“ Menschen durch Abgase gestorben. Die Maßeinheit verlorene Lebenszeit vermeidet dieses Missverständnis, wird aber bislang zu selten genutzt.

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