„Über eine Zusatzvergütung für die Mehrarbeit der Apotheker kann man nachdenken“

In der Diskussion um die Arzneimittel-Lieferengpässe haben die Krankenkassen in den vergangenen Wochen wieder einmal die Gemüter der Apotheker erregt. In zahlreichen Pressemitteilungen, Studien und Analysen rechnen die Kassen die Engpass-Problematik klein und kämpfen um ihre Rabattverträge. Dr. Christopher Hermann schreibt mit seiner AOK Baden-Württemberg stellvertretend für das gesamte AOK-System aus – zumeist exklusiv. Im Interview mit DAZ.online gibt Hermann zu, dass seine Verträge „Druck im Kessel“ erzeugt haben und denkt laut über Zusatz-Vergütungen für Apotheker nach.

DAZ.online: Herr Dr. Hermann, von den Krankenkassen haben wir in den vergangenen Wochen Pressemitteilungen wahrgenommen, nach denen die Situation mit der Lieferfähigkeit von Arzneimitteln eigentlich gar nicht so dramatisch ist. Die Apotheker und ihre Patienten erleben täglich das Gegenteil. Wie beurteilen Sie den Status quo?

Hermann: Grundsätzlich gibt es in Deutschland weiterhin eine flächendeckende Liefer- und Versorgungssicherheit bei Arzneimitteln jenseits der 99 Prozent. Allerdings sehen wir seit Jahren zunehmende Lieferengpässe, die in den allermeisten Fällen aber keine echten Versorgungsengpässe nach sich ziehen. Was die Wahrnehmung der Apotheker betrifft, ist es natürlich so, dass auch mögliche Retaxationen eine Rolle spielen. Ein Kunde, der vielleicht einen halben Tag länger auf sein Arzneimittel warten muss, nimmt das Problem gefühlt ganz anders wahr, als ein Apotheker, der fürchtet, wegen einer falschen Abgabe retaxiert zu werden.

DAZ.online: Das hört sich zunächst so an, als ob das ein rein quantitatives Problem wäre: Engpässe gibt es, sie können aber durch andere Produkte gut ausgebessert werden. Aber hat die Versorgung nicht auch qualitativ nachgelassen, wenn Shingrix-Impfungen nicht zu Ende gebracht oder empfindliche Arzneimittel wie Venlafaxin nicht verabreicht werden können?

Hermann: Bei den Impfstoffen ist die Lage schon noch ein bisschen anders. Da sehen wir in der Tat eine brutale Verengung der Anbieter. Da gibt es nur noch ganz wenige, die weltweit liefern. Was die Qualität der Engpässe bei Arzneimitteln betrifft, gebe ich Ihnen ja teilweise Recht. Ich wäre ja blind, wenn ich bestreiten würde, dass es Lieferengpässe gibt, vor allem allerdings im Krankenhausbereich. Das zeigt, die Ursachen sind zu vielfältig, um zu behaupten, dass durch Änderungen an den Rabattverträgen das Thema gelöst werden könnte.

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DAZ.online: Welches sind denn die Ursachen aus Ihrer Sicht?

Hermann: Sie sind vielfältig. Es ist weltweit so, dass Produktion und Nachfrage nicht mehr adäquat übereinstimmen. Allein deswegen ist es unlogisch, dass Rabattverträge in Deutschland daran Schuld sein sollen. Der Fall der Sartane hat gezeigt, dass wir hier über eine weltweite Dimension sprechen. Die Herstellung vieler wesentlicher Wirkstoffe erfolgt seit langem nur noch in wenigen Produktionsstätten. Da das europäische Patentrecht 27 Jahre lang bis Mitte 2019 die Wirkstoffproduktion für Generika vor Ablauf selbst des letzten Verfahrenspatents verboten hat, wurden die meisten Wirkstoffe von Anfang an dort produziert, wo dies weltweit am frühesten möglich war – oftmals im asiatischen Raum. Die dort in diesen Jahrzenten entstandenen Produktionsstätten beliefern heute Lohnhersteller in der ganzen Welt. Diese Lohnhersteller werden im Regelfall von den Unternehmen beauftragt, die dann letztlich auf der Packung stehen – die aber eigentlich nicht mehr sind als eine bessere Vermarktungsagentur.

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